Texte

2018 Roland Borgards, Vroni Schwegler – Open House. Tierstilleben
2017 Hermann Nitsch, Zur Kunst von Vroni Schwegler
2016 Alexander Eiling, Eröffnung Dommuseum Frankfurt
2016 Martin Sonnabend, Spinner und Schwärmer, Heussenstamm-Galerie, Frankfurt
2014 Kevin Perryman, Aus meiner Sicht: Notizen eines Verlegers
2014 Bettina Schmitt, FARBE SCHWARZ – Überlegungen zu Arbeiten auf Papier von Gerrit Vierbacher und Vroni Schwegler und einer Ente
2013 Roland Borgards, Fische, einzeln und im Schwarm
2013 Esther Walldorf, Laudatio Vroni Schwegler 27.09.2013
2013 Tobias Schnotale, Zwiegespräch mit einem Wandkaninchen
2012 Helmut Wicht, Vroni und die toten Hasen, Anatomisches Allerlei
2010 Mareike Hennig, Vroni Schwegler und der Babel Verlag in der Buchhandlung Walther Koenig
2009 Wolfgang Koch, Tiere in der Kunst
2004 Rudolf von Hillern, Zu den Radierungen von Vroni Schwegler
2003 Mareike Hennig und Roland Borgards, Ein Hase träumt sich selbst
2002 Hermann Nitsch, Hasenmalen


Roland Borgards
Vroni Schwegler – Open House. Tierstilleben

Vroni Schwegler hat dieser Ausstellung einen auf den ersten Blick vielleicht eingängigen, auf den zweiten Blick aber doch recht eigentümlichen Titel gegeben: Open House, offenes Haus.

Open House – das ist zunächst einmal eine Einladung: Kommt herein und seht, was es hier zu sehen gibt. Oder vielleicht etwas komplizierter, dafür aber genauer: Kommt herein zu mir und teilt mit mir, was zu sehen ich vorschlage. Es ist eine Geste der Gastfreundschaft, die, so stelle ich es mir zumindest vor, ganz grundsätzlich dort von Nöten ist, wo die Künstlerin (oder der Künstler) vom Kunst-Machen weitergeht zum Kunst-Zeigen. Die Künstlerin öffnet ihr Haus und zeigt uns ihre Kunst.

Eine Besonderheit des offenen Hauses besteht darin, dass es seine Einladung nicht an bestimmte Personen richtet, sondern an die Allgemeinheit: Das Haus ist offen, und wer immer kommen mag, soll kommen. Dies verleiht der künstlerischen Gastfreundschaft eine bemerkenswerte Asymmetrie: Alle Gäste kennen die Gastgeberin, aber die Gastgeberin kennt nicht alle Gäste. Damit ist das offene Haus die vielleicht elementarste Form, die Gastfreundschaft überhaupt annehmen kann, ganz ohne Einlasskontrollen, Zugangsbeschränkungen, Türhüter – eine Gastfreundschaft, die sich entschlossen hat, von der Herkunft der Gäste abzusehen und ihnen zu vertrauen. Und auch dies, so stelle ich mir weiter vor, ereignet sich ganz grundsätzlich am Übergang vom Kunst-Machen zum Kunst-Zeigen: ein Zutrauen der Künstlerin in uns Betrachterinnen und Betrachter, dass wir uns gegenüber ihrer Kunst zu benehmen wissen, und dies nicht etwa, weil sie uns kennt, sondern weil sie uns durch ihr Vertrauen, durch ihr offenes Haus, zu vertrauenswürdigen Personen gemacht hat. Vertrauenswürdig sind wir, weil wir Gäste des Hauses sind, das die Künstlerin, in diesem Fall Vroni Schwegler, für uns geöffnet hat.

Eigentümlich ist der Titel, den Vroni Schwegler ihrer Ausstellung gegeben hat, also zunächst einmal deshalb, weil er etwas zur Sprache bringt, was im Zeigen von Kunst in irgendeiner Weise wohl immer am Werk, was aber selten so klar zu spüren ist: die Künstlerin als Gastgeberin eines offenen Hauses. Stellen Sie sich also nachher, wenn Sie durch die Ausstellung gehen, vor, dass Sie als Betrachterin, als Betrachter ein Gast von Vroni Schwegler sind. Nein: stellen Sie es sich nicht vor; machen Sie es sich einfach klar: Sie sind Vroni Schweglers Gast, und zwar nicht ein individuell eingeladener Gast, sondern jemand, der ein Haus offen sieht und unbekannt betritt. Zu Gast bei Vroni Schwegler: Das meine ich zum einen sehr konkret: das sitzt sie, unsere Gastgeberin; zum anderen aber auch sehr allgemein: was heißt es wohl, als Gast zu sehen? Und womit haben wir das Vertrauen verdient, ohne Ansehen unser Person zum Sehen eingeladen zu sein?

Nun ist es gar nicht ihr eigenes Haus, in das uns Vroni Schwegler eingeladen hat. Es ist ein ihr vom Kunstverein Neckar-Odenwald zur Verfügung gestelltes Haus. Die Tatsache, dass die Gastgeberin damit selbst zu Gast ist, macht die Frage nach der fundamentalen Gastfreundschaft von Kunst etwas vertrackter, doch das möchte ich für heute beiseite lassen. Einlassen möchte ich mich aber darauf, was jetzt in diesem Haus zu sehen ist: Tierstilleben. So kündigt es der Untertitel der Ausstellung an.

Nehmen wir die Titel-Metapher vom offenen Haus beim Wort, dann können wir uns diese Tiere durchaus als Mitbewohner des Schweglerischen Haushalts denken, den als Gäste zu betrachten wir eingeladen sind. Will man für diese etwas seltsame Idee von den Tieren als Hausmitbewohnern ein wenig philosophischen Rückhalt haben, dann kann man Aristoteles als Zeugen aufrufen, der das Haus, griechisch den oikos, als die Grundeinheit aller gesellschaftlich-politischen Verhältnisse betrachtet und diesen oikos, anders als wir das heute gewohnt sein mögen, ganz ausdrücklich unter Einschluss der Tiere, Aristoteles nennt den pflügenden Ochsen, definiert. Ich zitiere Aristoteles: „Die für jeden Tag bestehende Gemeinschaft ist naturgemäß das Haus (oikos); es sind die, die Charondas ‚Brotkastengenossen‘ nennt, Epimenides aus Kreta aber ‚Krippengenossen‘“.

Das Haus als eine Gemeinschaft von Brotkastengenossen unterschiedlichster Art, oder umgekehrt formuliert: Wo sich zumindest zwei Kreaturen mümmelnd um einen Brotkasten versammeln, da ist ein Haus; wo Brot geteilt wird, da ist ein Haus; wo Kumpanei ist (der Kumpane kommt vom Lateinischen cum panis, mit Brot, der Kumpane ist der Brotgenosse), wo also Kumpanei ist, da ist ein Haus. Wenn wir nun – mit Aristoteles im Rücken – die Tiere in die Brotkastengenossenschaft einbeziehen, dann bekommt es plötzlich eine neue Selbstverständlichkeit, dass das „Open House“, das wir mit dieser Ausstellung betreten, von lauter Tieren mitbewohnt wird. Das scheint mir ein eigentlich offensichtlicher, aber doch leicht zu übersehender Punkt zu sein: Wenn man das Haus (das künstlerische Haus) von Vroni Schwegler betritt, dann sind da Tiere. Dies meint nicht einfach die Tatsache, dass Schwegler Tiere malt (und zeichnet und druckt usw.). Das wäre zu einfach. Es geht vielmehr darum, dass sie die Tiere auf eine Weise malt, die sie zu Mitbewohnern ihres Hauses macht: Vroni Schweglers Kunst nimmt die Tiere in ihre Brotkastengenossenschaft mit auf.

Nun liegen zwei Einwände gegen eine solche Perspektive auf der Hand. Zum einen sind die Tiere, die wir auf diesen Bildern sehen, alle tot. Und wie soll eine Brotkastengenossenschaft mit Toten aussehen? Zum anderen sind es gar keine Tiere, die wir sehen, sondern Bilder. Und wie soll eine Brotkastengenossenschaft mit Bildern aussehen?

Ja: Diese Tiere sind alle tot. Haus- und Brotkastengemeinschaften sind nicht immer und nicht durchweg eine kuschelige, weiche, einfache Sache. Das liegt schon allein daran, dass das, was sich da um den Brotkasten versammelt, Kreaturen sind. Und das, was Kreaturen miteinander teilen, ist ihre Verletzlichkeit, ihre Vulnerabilität, und es ist ihre Sterblichkeit. Im Normalfall bildet diese Verletzlichkeit und Sterblichkeit den Hinter- oder Untergrund eines Oikos, eines Hauses. Vroni Schwegler macht mit ihren toten Tieren diesen Untergrund selbst zum Thema. Dabei zeigt sie nicht einfach die Sterblichkeit der Kreatur; vielmehr nimmt sie die Sterblichkeit der Kreatur mit in ihr Haus auf. Und genau damit fügt sie dem Aristotelischen Oikos einen neuen Aspekt, ich würde sogar sagen, eine neue Einsicht hinzu: Hausgemeinschaften sind Gemeinschaften von verletzlichen und sterblichen Kreaturen. Ein gut geführtes Haus (und „gut geführt“ meine ich hier in einem ethischen Sinn), ein gut geführtes Haus weiß um diese Sterblichkeit, es bemüht sich gewissermaßen um diese Sterblichkeit, was aber wiederum fern von jeder gruftigen Morbidität liegt, insofern auch das „frische Leben“ (wie es einmal bei Georg Büchner heißt) eine der Referenzen ist, die man der Sterblichkeit erweisen kann.

Das „Open House“, das offene Haus, dessen Gäste wir sind, ist also mitbewohnt von sterblichen Kreaturen. Oder noch einmal anders gewendet: Vroni Schwegler zeigt uns die Verletzlichkeit und Sterblichkeit ihres Hauses, und insofern sie ihrerseits Kumpane ihrer Brotgenossen ist, auch ihre eigene Sterblichkeit. Und sie hat das Zutrauen in uns, dass wir mit dem, was wir sehen, vertrauenswürdig umgehen.

In diesem Zusammenhang erzeugt es eigentümliche Resonanzen, dass das Haus, in dem wir uns gerade befinden, eine besondere Geschichte und einen sprechenden Namen hat: „Altes Schlachthaus“. Hier, wo nun die Bilder der toten Tiere hängen, sind sehr, sehr viele Tiere gestorben. Und nicht nur gestorben: Sie sind getötet worden. Und um in der Passivformulierung die aktiv Handelnden nicht zu verbergen: Hier haben Menschen über eine lange Zeit sehr viele Tiere getötet.

Ich glaube nicht, dass Schweglers Bilder diese Tötungen moralisch verurteilen. Überhaupt: Sie sind kein moralischer Kommentar. Aber ich glaube, dass sie es ermöglichen, die Geschichte dieses Hauses ethisch zu bedenken. Schweglers „Open House“ öffnet sich in den Bildern der toten Tiere auch den hier getöteten Tieren, es erinnert daran, dass auch sie verletzliche Kreaturen waren. Wir sind zu Gast in einem alten Schlachthaus. Auch das können Sie sich, wenn Sie nachher noch einmal durch die Räume gehen, probehalber klar machen: Sie sind zu Gast in einem alten Schlachthaus.

Und dann wäre da noch der zweite Hinweis: Wir sehen Bilder, keine Tiere. Und wieso sollte man Bilder als Hausgenossen bezeichnen? Weil, so scheint mir jedenfalls, Schweglers Tierstilleben mit der gleichen künstlerischen Geste, mit der sie die Sterblichkeit der Kreaturen anerkennen, gegen das Verschwinden dieser sterblichen Kreaturen eine Gegenenergie entwickeln, eine Art Re-Animation der Tiere vornehmen (une réanimation des animaux). Das hat viel mit den benutzten Materialien und Techniken zu tun, viel mit der Positionierung der Tiere im Raum, und gewiss auch viel damit, was in den Bildern unausgeführt bleibt und gerade dadurch das Sehen in Bewegung setzt. Ein in dieser Ausstellung aber besonders wichtiges Element ist etwas, mit dem Schwegler nun seit einiger Zeit sehr konsequent arbeitet: Die konstellierende Anordnung mehrerer Tierstilleben an einer Wand. Das „Hasengrab“ mit seinen elf Hasen ist ein gutes Beispiel dafür: eine eindringliche Anerkennung der Sterblichkeit, verbunden mit einer paradoxen Anmutung von Lebendigkeit. Die Tiere beginnen damit ein Kunst-Leben zu führen, das den Tod nicht einfach verdrängt und das getötete Leben auch nicht einfach ersetzt, das aber doch ein Tier-Leben eigenen Rechts zu sein vermag.

Und dann hängen da in diesem Hasengrab auch noch fünf kleine Meisenbilder. Zum einen ist das natürlich als ein Hinweis darauf zu sehen, dass das Hasengrab im Grunde ein Kreaturengrab ist, ein Epitaph auf die Sterblichkeit der Kreatur. Zum anderen aber zieht damit auch eine gewisse Heiterkeit in die Komposition ein, eine keineswegs überhebliche, vielmehr eine fast zärtliche Heiterkeit, die die Konturen von Hasen und Meisen in ein rhythmisches Spiel versetzt.

Ein Haus, in dem die Verletzlichkeit aller Brotgenossen unablässig vor Augen steht. Ein Haus, in dem auf die Sterblichkeit der Kreaturen die Lebendigkeit der Kunst antwortet. Und ein Haus, das in überraschenden Augenblicken eine leise Heiterkeit auszustrahlen beginnt. Dieses Haus hat Vroni Schwegler heute für uns geöffnet. Seien wir seine Gäste.

Prof. Dr. Roland Borgards, 2018
Johann Wolfgang Goethe-Universität,
Frankfurt am Main

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Vroni Schwegler – Open House. Tierstilleben, Text von Prof. Dr. Roland Borgards, 2018.pdf

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hermann nitsch
zur kunst von vroni schwegler

ich habe immer bewundert, dass vroni schwegler ausgebrochen ist aus dem heute üblichen perspektiven des schauens, des zeichnens, des aufzeichnens, des aufzeigens. sie hat vielfach den „stillstand“ des seins festgehalten. sie malt tote tiere, eben geschlachtete hasen, hühner, dem wasser entzogene fische, insekten. sie beobachtet eine bestimmte phase der veränderung des fliessens des seins. die tiere zeigen sich nochmals in ihrer pracht, bevor ein andere vegetativer prozess sie umschliesst.
gleichzeitig – neben ihrer altmeisterlichen maltechnik, die das heute übliche künstlerische benützen der medien an notwendiger direktheit übertrifft – entsteht ein reichhaltiges druckgrafisches werk das gewissermassen den tod und den entwurf der auferstehung paraphrasiert. fast alle dem radierungsbereich entsprechenden techniken werden eingesetzt. man möge meiner wertschätzung den vergleich erlauben: hier entstehen lösungen, die in der tradition der grossen druckgrafik stehen. ich denke an dürer, rembrandt, goya, munch, klinger und rainer.

ich begreife ihr werk nicht über das einzelne blatt. ich sehe zyklische zusammenhänge. jedes blatt ist eingebunden in einen prozess des fliessens und werden des seins. in einem früheren text schrieb ich, ihre arbeit ist einer meditation vergleichbar. es kristallisiert sich für mich – für’s erste nicht so leicht erkennbar – das zentrale motiv von tod und auferstehung heraus. ich bin kein gegner der technologie, sie ist aus der natur entstanden, ist natur. ich bin nur gegen den missbrauch der technik und gegen das vergessen, der in der vergangenheit und zukunft liegenden organisation der natur. es tut mir gut zu sehen wie vroni schwegler die anatomie der toten tiere beobachtet, die farben der felle, des federkleides der vögel, der gold- und silberglanz der schuppen der fische, blutreste am fleisch der geschlachteten und erschlagenen tiere. sie analysiert die sensiblen seinsfindungsstrukturen der insekten. sie ergründet die abgründe aus denen heraus, die immer sich erneuernden entwürfe der natur, der lebendigkeit des seins, sich entwickeln. der tod wird als quelle der lebens verstanden.

hermann Nitsch,
prinzendorf, im august 2017

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zur kunst von vroni schwegler, Text von Hermann Nitsch 2017.pdf

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Alexander Eiling
Eröffnung Dommuseum Frankfurt

Einleitung
Bevor ich auf Vroni Schweglers Arbeit eingehe, muss ich etwas gestehen: Dommuseen gehören nicht gerade zu meinen ersten Anlaufstellen, wenn ich mit dem Gedanken an einen Museumsbesuch spiele. Die Aussicht auf einen Rundgang im Halbdunklen, vorbei an Gewändern und Goldschmiedearbeiten, an Inkunabeln und dem unvermeidlichen wenn auch liebevoll gebastelten Architekturmodell mit dem krönenden Finale am Postkartenständer, der ein Potpourri angegrauter Motive aus den 80er Jahren enthält haben mich nie recht locken können. Wenn ich denn mal hineinging, waren es schnelle Rundgänge des Vorbeigehens und letztlich des Übersehens, wenngleich ich es eigentlich besser hätte wissen müssen. In den Schatzkammern der Kirchen wird seit jeher das kulturelle Erbe Westeuropas gehütet. Die liturgischen Gewänder, Reliquienschreine, Monstranzen, Antependien und illuminierten Handschriften, die trotz des Bildersturms der Reformation auf uns gekommen sind, bilden das Fundament der Kunstgeschichte, die mich in Form von Malerei, Zeichnung und Druckgraphik zugegeben ungleich mehr interessierte. Ich habe mit dem Besuch dieser Ausstellung also eine neue Chance erhalten, meine Meinung zu revidieren und mein Verhältnis zu dieser Kunst grundsätzlich neu zu hinterfragen. Auslöser für diesen Wandel ist die kluge Entscheidung von Bettina Schmitt, diese ihr sicherlich wohlbekannten Vorbehalte positiv zu wenden. Durch eine neu ins Leben gerufene Ausstellungsreihe mit Werken zeitgenössischer Künstler lenkt sie den Blick geschickt auf die von ihr betreute Sammlung und schafft einen Zugang für ein breiteres Publikum, dass vielleicht nie den Weg hierher gefunden hätte.

Vroni Schwegler
Die erste Künstlerin in dieser Reihe ist Vroni Schwegler, deren Werk ich seit unserer ersten Begegnung in der Graphischen Sammlung des Städel vor fast 15 Jahren begleite. Vor drei Jahren hat sie eine große Wandzeichnung in der Orangerie der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe für eine Ausstellung realisier, die auch ein Anlass war, heute über ihre Arbeit zu sprechen. Bevor ich auf den Rundgang eingehe, möchte ich kurz ein paar allgemeine Worte zu Vroni Schweglers Arbeiten sagen. Zentrales – wenngleich nicht einziges Thema ihrer Kunst – ist das Tierstillleben, dem sie sich in Malerei, Zeichnung und Druckgraphik widmet. Es ist kein Thema, dass in der zeitgenössischen Kunst „fröhliche Urstände“ feiert. Ganz im Gegenteil, Ihre klassischen Motive und die technisch hervorragende Ausführung erscheinen Vielen im Kunstbetrieb geradezu altmeisterlich befremdlich. Dabei handelt es sich bei ihrer Arbeit nicht um eine Fortsetzung dieser seit dem Barockzeitalter in der europäischen Kunst fest etablierten Gattung, sondern um eine kluge Hinterfragung und zeitgemäße Adaptierung. Vroni Schwegler verwendet für ihre Arbeiten eine Vielzahl an Tieren von Kaninchen über Fische, Rehe und Wildschweine bis hin zu Faltern, Bienen und Fliegen. Ihr Blick auf die toten Tiere ist nicht primär der des memento mori (eine Mahnung an die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens) sondern zu aller erst der forschende und nachspürende Blick, der sich für Strukturen, Farbigkeit und Materialität interessiert. Das Tier ist mehr Anlass als Ursache eines immer wieder neu künstlerisch auzulotenden Verhältnisses zwischen Technik und Realisierung, zwischen dem gewählten Objekt und seiner kühnen Platzierung auf dem Bildträger. Ihr Werk kennzeichnet dabei das Gespür für ungewöhnliche Details, die sich in der Darstellung von Fragmentarischem, scheinbar Unvollendetem niederschlagen. Schmale Hochformate, großflächige Leerstellen, vorgefundene und stehengelassene Partien auf den Druckplatten, doppeldeutig lesbaren Strukturen zeigen dabei eine Nähe zur Kunst des japanischen Farbholzschnittes, der seit dem 19. Jahrhundert ein wesentlicher Katalysator für die Entwicklung einer anti-klassischen, gegen das Primat der Zentralperspektive gerichteten Ästhetik war.

Vroni Schwegler hat in den letzten Jahren die Grenzen der von ihr verwendeten Techniken immer weiter ausgereizt und neben ungewöhnlich großformatigen Radierungen, eindrucksvolle Wandzeichnungen auf historischer Bausubstanz geschaffen. Darüber hinaus arbeitet sie seit Kurzem mit Zeichnungen auf Glas, die erst durch das Anstrahlen mit einer Lichtquelle sichtbar werden. Ungeachtet der Dimension ihrer Bildträger wahrt sie in ihrer Kunst immer die reale Größe des Motivs. Ein nach Modell gezeichneter Fisch entspricht in der Dimension seiner ursprünglichen Gestalt, ein Hase wird nicht zum Elefant, eine Biene nicht zur Wachtel aufgeblasen. Diese Entscheidung halte ich in den Zeiten zahlloser gebeamter und abgemalter Blowup-Versuche für geradezu wohltuend.

Wie es dem Charakter von Vroni Schwegler und ihrer Kunst entspricht hat sie sich in dieser Ausstellung somit auch nicht für den großen Auftritt entschieden, sondern bescheidene, im besten Sinne beiläufige Interventionen in den bestehenden Ausstellungsrundgang eingebracht. Diese wollen die Werke der Sammlung nicht übertrumpfen, sondern sich partnerschaftlich und in Dialogform an deren Seite stellen. Dabei ergeben sich erstaunliche Konstellationen: So können wir in den Vitrinen des zentralen Raumes zarte Radierungen von Blättern, Blüten und Halmen neben ornamental verzierten Goldschmiedearbeiten sehen. Das Dokumentieren von Gravuren auf Metall als Mustervorrat für die Künstlerwerkstätten war einer der initialen Impulse für die Erfindung des Tiefdrucks im ausgehenden Mittelalter. Das Rankenwerk auf den Kelchen und Messschalen findet somit in Vroni Schweglers radierten Blütenblättern ein sinnfälliges zeitgenössisches Pendant.

Ein wichtiger Auslöser für die Ausstellung im Dommuseum waren Vroni Schweglers Paraphrasen zur Passion Christi. Die vielfigurigen Darstellungen von Kreuzigungen oder Grablegungen, die sie als Vorlage aus der Kunstgeschichte wählte, werden dabei auf das Wesentliche reduziert. Assistenzfiguren entfallen fast komplett. Die versehrte Gestalt des geschundenen Leibs Christi erscheint zum Torso fragmentiert, bereits in Auflösung begriffen. Entmaterialisiert und schwebend löst sich sein Körper in den Nuancen der Radierungen auf, deren Druckplatten ebenfalls Zeichen von Verwundung tragen. Das Interesse an der Fragilität von Körpern – die Spuren des Lebendigen im Tode – haben die Künstlerin bereits vor Jahren in die Pathologie der Frankfurter Uniklinik geführt, wo sie erstaunliche Zeichnungen von Präparaten angefertigt hat, die sich in den Christusparaphrasen wiederspiegeln.

Lassen Sie mich ihnen kurz einen Einblick in den weiteren Rundgang geben, ohne alles Vorwegzunehmen, da im eigenständigen Entdecken ein Grundprinzip dieser – eigentlich jeder guten – Ausstellung steckt. Sobald Sie diesen Raum verlassen werden sie immer wieder auf Werke der Künstlerin innerhalb der Präsentation treffen. Teile des Inventars mussten dafür weichen oder wurden in anderen Vitrinen mit Objekten neu vergesellschaftet. Eine besonders schöne Verbindung gehen die reich verzierten und äußerst prächtigen Messgewänder mit großformatigen Radierungen von Federvieh ein – von der Künstlerin lautmalerisch „Hohe Hühner“ genannt. Die Wucht und Dynamik dieser aufstrebenden Himmelfahrtshühner wird durch das schmale Hochformat unterstützt. Frei schwebend in den Vitrinen platziert sind diese Arbeiten wie eine Summa der Schwegler’schen Radierkünste: Kühn in der Komposition, differenziert in der Darstellung von Texturen, farblich perfekt nuanciert und brillant im Druck zeigen sie eine über Jahre hinweg entwickelte Meisterschaft in den graphischen Künsten. Das Aufeinandertreffen von kostbarer Stickerei und prächtigem Federkleid mag eine augenzwinkernde Analogie zu der von Luther beklagten Prunksucht katholischer Prälaten sein. Für eine im erzkatholischen Oberbayern aufgewachsene Künstlerin keine ganz abwegige These. Doch zeigt sich gerade in einem genauen Blick auf das auffällige Muster der Gewänder und deren filigrane Brokatstickerei, dass wir es hier mit einer Frühform des Recyclings zu tun haben. Die teuren italienischen Stoffe führten oft ein Vorleben als elegante Ballrobe einer Adeligen oder einer reichen Bürgersfrau. Die Kleider wurden meist nach deren Tode an die Kirche gestiftet. Für ihre Zweitverwendung als Pluviale, Kasel oder Dalmatik im liturgischen Gebrauch mussten sie erst umgeschneidert und mit christlichen Symbolen versehen werden. Die Stoffe weisen vielfach ein ostasiatisches Dekor auf, das uns im kirchlichen Bereich fremdartig erscheinen mag, im 17. Jahrhundert aber in viele Bereiche des europäischen Kunsthandwerks Einzug hielt. Umso stimmiger erscheint ihre Präsentation neben den Radierungen von Vroni Schwegler, deren Ästhetik ebenfalls von diesem Kunstkreis beeinflusst ist. Beide sind Beispiele für einen stetigen Kulturtransfer, der sich wie ein roter Faden durch die europäische Kunst zieht und den kulturellen Reichtum des Kontinents ausmacht. Ein Aspekt, der in Zeiten zunehmender Fremdenfeindlichkeit ein Nachdenken wert sein sollte.

Die Hauptarbeit im Zentrum der Ausstellung entstand auf dem vom Ballast alter Stellwände befreiten Turm, auf dessen Rundung Vroni Schwegler einen Fischschwarm gesetzt hat. Als Vorlage diente ihr eine einzige Forelle, die in verschiedenen Ansichten mit Bleistift auf den rauen Putz gezeichnet wurde. Für Vroni Schwegler liegt der besondere Reiz am Motiv des Fisches in seiner Lebendigkeit, die über den Tod hinaus Bestand hat. Selbst im Körper des toten Tieres scheinen seine Bewegungen immer noch präsent zu sein. Dynamisch auf- und absteigend gruppieren sich die Leiber zueinander auf der wie ein Goldfischglas gebogenen Wand. Die fragile Zeichnung verräumlicht sich auf diese Weise – Spannung wird zwischen den Gruppen aufgebaut, die das Weiß der Wandfläche aktiviert, ähnlich, wie wir es in ihren Radierungen beobachten können. Vroni Schweglers Kunst lebt von diesem dynamischen Dazwischen, von Leerstellen, die ebenso wichtig wie das dargestellte Motiv selber sind. Mit dieser Wandzeichnung sprengt und erweitert die Künstlerin die Spielregeln des klassischen Tierstilllebens, indem sie es von seinem moralisierenden Gehalt befreit und mit einem Handlungsmoment verknüpft. Die inhaltliche Verbindung mit dem Ausstellungsort spielt hierbei eine wichtige Komponente. Das griechische Wort für Fisch Ichtys enthält ein kurzgefasstes Glaubensbekenntnis. Es wird gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Wörter: Iesous, Christos, Theou, Hyios, Soter – Jesus Christus Gottes Sohn Erlöser.

Ichtys – der Fisch – erscheint als ein Symbol der frühen Christen auf Wandmalereien in den römischen Katakomben und findet in Vroni Schweglers Fischturmzeichnung ein fernes Echo. Ganz im Zeitgenössischen und trotzdem geschichtsbewusst wird hier abermals ein wesentlicher Grundzug ihrer Kunst sichtbar. Nehmen sie sich die Zeit und betrachten Sie die Vitrinen der Ausstellung sorgfältig. Ihnen werden Falter und Wildschweine, eine Hasen-Predella, gemalte und ins Glas gezeichnete Fische begegnen. Es handelt sich hierbei nicht um eine neue religiöse Kunst, sondern um ein beziehungsreiches Spiel mit der christlichen Ikonographie, die nicht mehr Träger von Inhalt sondern reine Malerei oder Zeichnung sein kann. Teilweise fügen sich die Werke so perfekt in ihr Umfeld ein, wie im Falle eines gemalten Wildschweinkopfes an der Seite barocker Gewänder, dass man hofft, er möge dort verbleiben.

Vroni Schweglers Interventionen zeigen eindrücklich, dass es sich bei der Sammlung des Dommuseums eben nicht um ein abgeschlossenes, archiviertes und ausgestelltes Kapitel der europäischen Kunstgeschichte handelt, sondern dass es sich lohnt, die Frage nach der Relevanz dieser Werke im Hier und Jetzt durch den Dialog mit zeitgenössischen Arbeiten immer wieder neu zu stellen.

Ich gratuliere der Künstlerin zu Ihrer Arbeit, wünsche Bettina Schmitt für die Fortführung ihrer Reihe weiterhin ein so glückliches Händchen und wünsche uns allen einen entdeckungsreichen und launigen Abend.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Alexander Eiling, 2016

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Eröffnung Dommuseum Frankfurt, Text von Alexander Eiling, 2016.pdf

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Martin Sonnabend
Ausstellungseröffnung Heussenstamm-Galerie, Frankfurt, 12.4.2016

Vroni Schwegler. Spinner und Schwärmer


Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir eröffnen heute hier in der Heussenstamm-Galerie eine Ausstellung mit Zeichnungen, Aquarellen, Radierungen, Glasritzungen, deren Projektionen, Leporello- und Fensterzeichnungen von Vroni Schwegler. Auf allen Werken sind Tiere zu erkennen.

Vroni Schwegler stammt aus der Umgebung von München und hat in Frankfurt an der Städelschule studiert, bei Herrmann Nitsch.
Von ihm hätte sie die große Form lernen können, aber sie hat sich lieber mit dem kleinen Format auseinander gesetzt. Und sie hat sich auf die klassischen Techniken der bildenden Kunst eingelassen, auf das Malen, Zeichnen und Radieren.

Auf allen Werken sind, wie gesagt, Tiere zu erkennen. Manchmal sind es ganze, manchmal Teile von ihnen, manchmal ist es eines, manchmal sind es mehrere oder, genauer, dasselbe mehrfach. Es sind unterschiedliche Tiere, hier rechts und weiter hinten sehen Sie verschiedene Vögel, gegenüber Nachtfalter, oben können Sie Hasen finden, noch mehr Vögel, Fliegen, und noch mehr Nachtfalter, Spinner und Schwärmer eben. In der Kunstgeschichte gibt es für solche Darstellungen ein Wort, „Stilleben“, oder, auf Französisch, „nature morte“, „tote Natur“. Damit wären wir bei der Frage, ob diese Tiere leben oder nicht. Das ist eine Frage, die ich jetzt nicht versuchen werde zu beantworten. Vielmehr empfehle ich Ihnen, sie sich selbst beim Betrachten der Werke von Vroni Schwegler zu stellen.

Eine andere Frage: Wie entstehen diese Werke? Ein Fund auf der Straße zum Beispiel – vielleicht auch als Mitbringsel aus dem aufmerksamen Freundeskreis, ein toter Vogel, eine Motte oder anderes – wird zum Modell. Das liegt dann da, die Künstlerin betrachtet es und überträgt es in immer neuen Versuchen in eine Zeichnung, oder eine Druckgraphik, ein Aquarell usw. Immer wieder neu, über Tage, solange das Modell, eventuell im Kühlschrank, erhalten werden kann.

Es kommt auch vor, dass die Künstlerin ein Stilleben aus der Kunstgeschichte, zum Beispiel von Frans Snyders aus dem 17. oder von Jean-Baptiste Oudry aus dem 18. Jahrhundert, zum Modell wählt. Dann will sie wissen, wie die Kollegen vor 300 oder 400 Jahren ein Stück Jagdbeute, z. B. den Hasen, den Sie oben in zwei Glaszeichnungen sehen können, behandelt und in Szene gesetzt haben. Dieser Frage geht sie mit der gleichen Neugierde nach, die sie auch den Modellen aus der Natur entgegenbringt, obwohl es, wie sie sagt, ein anderes Arbeiten ist. Nach der Kunst arbeitet sie nur, weil sie das Arbeiten nach der Natur genau kennt, das sich nicht nur in der unmittelbaren Präsenz des Darzustellenden oder in der visuellen Wahrnehmung unterscheidet, sondern auch in anderen sinnlichen Begleitumständen. Wie dem Blutgeruch oder den sich einstellenden Fliegen zum Beispiel. Das weitere Vorgehen hat verschiedene Aspekte.

Am Anfang steht die Wahl der Technik – Zeichnung, Aquarell, Radierung usw. – eine Wahl, die keiner Regel folgt, sondern aus dem Augenblick, aus dem Gefühl beim Betrachten des Modells getroffen wird. Es ist keine belanglose Wahl, denn es ist ein großer Unterschied, ob der Umgang mit dem Modell auf dem Weg einer ganz unmittelbaren Bleistiftzeichnung oder etwa einer sehr mittelbaren, erst beim Drucken der gestalteten Platte in Erscheinung tretenden Radierung geschieht. Aber egal wie die Wahl ausfällt, es folgt ein vollkommen professioneller Umgang mit der jeweils gewählten Technik. Ob es nun um eine Bleistiftzeichnung oder um eine Ätzradierung geht, um das schwer zu kontrollierende Führen des Aquarellpinsels oder das besser kalkulierbare Ritzen einer Glasplatte, Vroni Schwegler verwendet keine Energie darauf, diese Verfahren „richtig“ zu machen. Weil sie sie beherrscht. Das ist wichtig, denn damit kann sich die Neugierde, das Interesse am Gegenüber ungehindert entfalten. Das Modell ist ja ein Zufall, etwas Gefundenes. Es wird nicht arrangiert, es soll – über sich selbst hinaus – nichts bedeuten. Es wird aufmerksam betrachtet, und die Hand reagiert auf den Eindruck, übersetzt das Gesehene, Gefundene, Gefühlte in Striche und Strukturen, die nichts mit einer „Abbildung des Gegenstandes“ zu tun haben, sondern Spuren eines kommunikativen Prozesses sind. Und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann man sehen, wenn man diese Werke betrachtet.

Die Künstlerin bringt übrigens dem Medium das gleiche freundliche Interesse entgegen wie dem Modell. Ein Kratzer, eine Beschädigung in der Radierplatte – Vroni Schwegler liebt Benutztes und Gebrauchtes, Nicht-Perfektes – bekommt die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie etwa die Flaumfeder unter dem Flügel einer toten Ente. Das geschieht unsentimental, nüchtern und immer in seiner Zeit, manchmal langsam, manchmal schnell; das Entdeckte wird genommen wie es kommt und ist und mit Disziplin zusammen geführt. Das Ergebnis ist nie vorauszusehen, und es entsteht zuletzt und eigentlich im Moment der Entscheidung, aufzuhören, über einen bestimmten Punkt nicht hinauszugehen.

Dieser Punkt ist zugleich der Beginn des nächsten Versuchs.

Dann gibt es Entdeckungen, die sich aus Entdeckungen ergeben. Die Erfahrung mit metallenen Radierplatten, für Ätz- oder Kaltnadelradierungen, und der zufällige Fund einer Glasplatte, oder mehrerer, vereinigen sich zu Versuchen, die unerwartet und ungeplant zu den sublimen Glaszeichnungen und ihren Lichtprojektionen führen. Diese Glasarbeiten bieten mehrere Ebenen der Betrachtung an: man kann die Zeichnungen auf der Scheibe ansehen, die man je nach Betrachtungswinkel und Lichtsituation anders sieht, mal glitzernd, mal matt, mal hell, mal dunkel, mal deutlich, mal undeutlich und manchmal gar nicht. Man kann aber auch die Projektionen ansehen – bei denen man mit der Einordnung zu kämpfen hat, ob diese Zeichnungen tatsächlich da sind oder nicht.

Eine andere Entdeckung ist das Felgenspray. Was immer das genau ist und wozu immer es eigentlich dienen soll, an der Felge, Vroni Schwegler setzt es in einem mit Zeichnung ebenso wie mit Radierung verwandten Verfahren ein, dem wir die schönen Fenster- und Türzeichnungen hier am Eingang zu verdanken haben. Oder die Entdeckung, dass man ein Blatt mit Zeichnungen geschickt zu einem Leporello falten kann, das dem Betrachter eine “Mise en Page“, eine Anordnung auf der Seite, anbietet, die im Dreidimensionalen, im Raum stattfindet.

Vroni Schwegler ist auch Lehrerin. Sie unterrichtet Bildende Kunst an einer Hochschule, und sie war einige Jahre lang Leiterin der Abendschule der Städelschule, dem mittlerweile abgeschafften Lehrangebot an nicht-professionelle Künstler. Ich erwähne das, weil sich ihr künstlerisches Verhalten auch auf dieser Ebene abbildet. Sie begegnet den Arbeiten ihrer Schüler mit der gleichen Aufgeschlossenheit und dem gleichen zugewandten Interesse wie den Modellen, die sie zeichnet oder malt. Sie ist immer neugierig auf das, was sie finden kann.

Damit eröffnen wir heute eine Ausstellung mit Kunstwerken, die sich mit großer Intensität und – wie ich finde – Schönheit für das Unspektakuläre, das Nicht-Angesagte, das Stille und leicht einmal Übersehene interessieren. Die Fensterzeichnungen mit Felgenspray, die aus einem Blickwinkel deutlich, aus einem anderen kaum zu sehen sind, an denen die Passanten ebenso achtlos vorbeieilen, wie plötzlich vor ihnen stehenbleiben werden, sind dafür gerade die richtige Schaufenster-Werbung. Und die Galerie der Heussenstamm-Stiftung, einer Stiftung, die einst gegründet wurde, um ausdrücklich das weniger Sensationelle, aber deshalb nicht weniger Bedeutende zu fördern, ist dafür der richtige Ort.

In diesem Sinn wünsche ich allen, ausdrücklich auch allen Spinnern und Schwärmern, mit dieser Ausstellung viel Freude und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Martin Sonnabend, Frankfurt, 12.04.2016
anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Heussenstamm-Galerie, Frankfurt am Main

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Ausstellungseroeffnung Heussenstamm-Galerie, Frankfurt, 12.4.2016, Text von Martin Sonnabend, 2016.pdf

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Kevin Perryman
Aus meiner Sicht: Notizen eines Verlegers zu Vroni Schweglers Radierungen

Es sind Tiere, lauter tote Tiere – bescheidene Lebewesen. Monochrome Ätzradierungen. Kleine Vögel. Immer wieder Hasen. Fische, die zu schwimmen oder zu fliegen scheinen; und dann und wann eine Ente oder ein Fasan. Es sind auch Gräser, Zweige; paarweise Ahornsamen, manchmal Blumen oder Obst: Kirschen, Erdbeeren, und das eine Blatt mit einer dreiviertel Birne, der Andeutung zweier weiterer, Blätter einer vierten – aber die Radierung ist dreiviertel leer (die Art „Leere“, auf die sich Cézanne verstand, und Morandi). Und, unvergeßlich: Nachtfalter, Schwärmer. Diese aber sind Kaltnadelarbeiten mit ihrem rußigen, fast pastosen Schwarz.

Es ist die Position auf der Platte, die sich dem Beschauer sofort einprägt, prekär, bedroht, eingeengt, an den Rand gedrängt, angeschnitten. Stillleben. Leben, das still, tot ist, und das in dieser Stille lebt. Es ist eine Art Stille, die nicht durch den Tod eintritt oder entsteht, sondern eine, die kunstvoll geschaffen werden muß, vielleicht will. Eine Stille, die mit jener Cézanne’schen „Leere“ vergleichbar wäre. Eine Leere, die voll ist von Grau. Von Rauschen. Wie im Weltraum.

Hasenbalg, 2005: Dieser Hase hing in Wien, in einem üppig ausgestatteten Saal vor prunkvollem Stoff, doch das Blatt, der Hase, war der die Pracht. Vroni Schweglers Strich verrät, welche Haare struppig, welche weich, welche flaumartig sind; und die kleinen Wirbel im Fell, als wäre Wind in ein Feld eingefallen: ein Wunder. (Wie natürlich auch beim lebendigen Hasen – aber es ist doch ein Unterschied, denn wir wissen um den Tod des Tieres. Hier ist es anders lebendig.) Das Auge ist ein schwarzes Loch, in dessen Mitte ein lebloser Planet im All kreist. Die Haare im Ohr sind Antennen, um Signale aus dem fernen Bau, aus dem dunklen Wald, aus dem Weltraum zu erkennen, zu filtern. Das kann sie auch mit Federn (vgl. Ente).

Wir sind gehalten, im grauen Schweigen um den Hasen herum, das wir „weiß“ nennen würden, wenn die Platte neu oder poliert wäre, mehr als nichts zu erkennen (wie bei Cézanne oder Morandi).

Vroni Schwegler verwendet beschädigte, ruinierte Platten – verschmiert, von Staub und Dreck übersät (wie das Weltall), von Kratzern durchfurcht. Am besten kommt die Wirkung dieser Platten zum Tragen in den Kreuzigungs- und Pietà-Blättern. Hier sprechen die Falten, der Fall des Stoffes wie im späten Mittelalter und zu Anfang der Renaissance. Das Stofflich-Haptische, Wandbehangartige wird durch den Zustand der Platte erhöht. Der Schmerz (Metapher und Menschliches – geschunden, verrenkt vor Pein wie bei Grünewald bzw. erhaben-unirdisch wie bei Gerhard Richter) liegt über dem Schoß der Mutter Gottes, aufgefangen in der Pyramidenform ihrer statuarischen Präsenz. Diese Radierungen waren es, die mich dazu veranlaßt haben, das Buch Kreuz zu machen. Das Buch bildet einen Rahmen für die Bilder. Die Gedichte des Walisers R.S. Thomas ergänzen sie, sind wie dafür geschaffen und wirken so, als wären sie Grundlage oder Vorlage für die Bilder gewesen.

Vroni Schwegler und ich begegneten uns erstmals auf einer Buchmesse. Dieser Mensch geriet an den Stand des BABEL Verlages, blieb vor den Büchern stehen und schaute. Erzählte ich die Geschichte, wählte ich Wörter wie „Hingabe“, „Bescheidenheit“, „Achtung“… dann könnte ich auch, sollte vielleicht sogar versuchen zu erklären, warum ich diese Qualitäten für menschlich und in der Kunst für erstrebenswert halte bzw. warum ich glaube, daß in der Aufgabe Kunst gerade Hingabe, Bescheidenheit und Achtung unumgänglich sind, wenn ein Mensch Werke schaffen soll, die über sein Ich und das Heute hinaus Gültigkeit besitzen, von Dauer sein werden (wie die Arbeiten von Vroni Schwegler). Nun habe ich das Privileg und die Freude, mit dieser großen Künstlerin Bücher zu machen. Lange, bevor sie zum BABEL Verlag fand, hat Vroni Schwegler selbst Bücher gemacht: aneinandergereihte Radierungen in Auflagen von drei Exemplaren, mit einem Wort in Handsatz als Titel, ohne Impressum, ohne Erklärung.

Manche wollen die Kunst talkshowfähig machen. Dann ist sie natürlich keine mehr. Es wird ohnehin immer schwerer, auf Schweigen zu hören. Zu ihrem Werk sagt Vroni Schwegler nahezu nichts. Sie hat andere Aufgaben. Die erfüllt sie zum Glück gewissenhaft und ohne Aufhebens. Der Mensch Vroni Schwegler wirkt manchmal scheu; der Künstler Vroni Schwegler scheut vor dem Tod nicht zurück. Vroni Schwegler schaut hin. Sie überträgt das Geschaute auf eine Platte – in eine Sprache, eine Schrift, die wir lesen können. Dann dürfen wir hinschauen, staunen und nachdenklich werden. (Nicht so sehr nachdenken, denke ich.)

Trotz des unausweichlichen Todes und der diskret eingeräumten Möglichkeit vorangegangenen Leides ist hier nie ein Vorwurf herauszulesen – weder an den diesen Tod verursachenden Menschen, noch an einen solchen Tod zulassenden Gott. Derartige Gedanken kommen hier nicht auf. Würde strahlen die Arbeiten (die Tiere?) aus; eine Empfindung der Trauer im Betrachter wäre nachvollziehbar; ich ziehe Zulassen vor, Zelebrieren sogar, nicht rückblickend: dessen, was war, sondern der Wirklichkeit, die hier lebt. Trauer trauert meistens nach – nach dem Tod. Wie die Kunst kann sie von Dauer sein. Nach dem Tod ist dieses Leben da. Dieses Leben nach dem Tod (und ich glaube nicht, daß es hier um weniger geht) vergegenwärtigt zwar den Tod, aber feiert das Leben.

Schaut! Die eine Ente scheint nach oben zu streben; die mittlere schaut sich besorgt nach der dritten, „unteren“ um. Wir interpretieren, personifizieren. Das entspricht, vermute ich, eher unserem Bedürfnis als dem der Kunst, für deren Gelingen die Kongruenz von Handwerk, Hingabe und Akribie entscheidend ist. Mancher Vogel, mancher Hase ist noch warm. Der Ruß auf den Flügeln der Falter ist der Staub, der auf unseren Fingern schimmert, wenn wir diese Lebewesen berührt haben. Aber ich bin voreingenommen.

Ach, wenn an unserem Tod jemand so viel Anteil nähme.

Kevin Perryman, 2014

Zusammenarbeit zwischen Vroni Schwegler und dem BABEL Verlag:

Flieder, Gedichte von Friederike Mayröcker, mit Reproduktionen von vier Radierungen von Vroni Schwegler, 2008;
50 Vorzugsausgaben signiert von Autorin und Künstlerin und mit einer Original- Radierung von Vroni Schwegler als Frontispiz eingebunden;
10 Leinen-Kassetten mit Buch (signiert von Autorin, Künstlerin, Typograph/ Setzer/Drucker, Buchbinderin, Druckerin der Radierungen, Herausgeber) mit vier numerierten, signierten Original-Radierungen;

Das zärtliche Sakrament der Sehnsucht, Gedichte von Friederike Mayröcker, mit Reproduktionen von vier Radierungen von Vroni Schwegler, 2009;
50 Vorzugsausgaben signiert von Autorin und Künstlerin und mit einer Original- Radierung von Vroni Schwegler als Frontispiz eingebunden;

The Cross, Gedichte von R.S. Thomas (englischsprachige Ausgabe), Reproduktionen von vier Radierungen von Vroni Schwegler, 2009;
50 Vorzugsausgaben numeriert und signiert von der Künstlerin und mit einer Original-Radierung von Vroni Schwegler als Frontispiz eingebunden;

Das Kreuz, Gedichte von R.S. Thomas(zweisprachig englisch-deutsch), Reproduktionen von vier Radierungen von Vroni Schwegler, 2010;
50 Vorzugsausgaben numeriert und signiert von der Künstlerin und mit einer (anderen!) Original-Radierung von Vroni Schwegler als Frontispiz eingebunden;

den Vorzugsausgaben folgender Bücher aus der „Weißen Reihe“ liegt ein numeriertes signiertes Original-Radierung von Vroni Schwegler bei:
Robert Creeley, Hoffnung klar umrissen, 2007
Pentti Holappa, Ein obdachloser Gedanke, 2008
R.S. Thomas, Steinzwitschern, 2008
R.S. Thomas, Mit Fängen aus Feuer, 2010
Anne Beresford, Sonnenlicht im Obstgarten, 2011
R.S. Thomas, In zierlichen Schlingen, 2013
R.S. Thomas, Das himmelreimende Kind, 2013

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Bettina Schmitt
Ansprache zur Vernissage der Ausstellung am 9. Mai 2014

FARBE SCHWARZ – Überlegungen zu Arbeiten auf Papier von Gerrit Vierbacher und Vroni Schwegler und einer Ente

Bei den Arbeiten von Vroni Schwegler und Gerrit Vierbacher haben wir es mit Werken zu tun, die sowohl in ihrer künstlerischen Umsetzung als auch in den Inhalten, die sie berühren, ein dichtes Netz an Verweisen spinnen, aus dem ich allenfalls den einen oder anderen Faden sozusagen mit Ihnen in die Hand nehmen kann. Und dass das dann der rote ist, der uns sicher durchs Labyrinth führt, kann ich nur hoffen.

Ich beginne mit der scheinbar einfachsten Verflechtung: der biographischen. Gerrit Vierbacher studierte 1965 bis 1970 Kunst in München, Berlin und Düsseldorf, unter anderem bei Joseph Beuys und Mac Zimmermann, und von 1972 bis 1976 Soziologie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Bereits hier würde man gerne einhaken. Dass man vor diesem Hintergrund das Politische aus dem eigenen Leben und Arbeiten nie würde ausblenden können, versteht sich, denke ich, von selbst.

Gerrit Vierbacher arbeitete über 20 Jahre, bis 1999 als Kunsterzieher. Danach wurde er wieder Schüler: an der Städel-Abendschule, wo Vroni Schwegler unterrichtete. Gerrit: Schüler der eine Generation Jüngeren, Vroni: Dozentin und Leiterin der Schule. Sie hatte selbst an der Städelschule studiert, war Meisterschülerin von Hermann Nitsch und unterrichtet seit vielen Jahren Malerei, Zeichnen und Druckgraphik, klassische Techniken, die sie in ihren eigenen Werken virtuos anwendet. Gegenwärtig leitet sie die Tiefdruckwerkstatt der Fachhochschule Mainz. Vroni Schwegler ist in Bad Homburg, namentlich im Kunstverein Artlantis, keine Unbekannte: Beim letztjährigen Bad Homburger Herbstsalon erhielt sie den Preis der Jury; Gerrit hatte sie zur Teilnahme am Salon vorgeschlagen. Sie zeigte damals einen Schwarm Fische, mit Ölfarbe auf kleinformatige Platten gemalt. Ihre Arbeiten sind derzeit auch in der Taunus-Galerie im Landratsamt des Hochtaunuskreises zu sehen.

An beiden Biographien fällt auf: Beim Arbeiten mit Kunst spielt die Vermittlung eine Rolle. Beide teilen die eigene Suche auf eine Art mit anderen. Geduld und Bescheidenheit, die Freude an den Fortschritten anderer – oder: sich selbst zurücknehmen – sind Voraussetzungen dafür.

An beiden fällt noch ein Zweites auf: Wenn Hermann Nitsch etwas nicht ist, dann berühmt als virtuoser Maler oder Kupferstecher. Mit seinem Namen verbinden sich die Orgien- Mysterien-Spiele – an denen Vroni Schwegler als Akteurin teilnahm. Wenn ich das betone, dann will ich auf jeden Fall nicht sagen, dass man auch mit einer über Jahre entwickelten eigenen künstlerischen Position mit (bald) Mitte 40 immer weiter im Lehrer-Schülerinnen- Verhältnis befangen bleiben wird. Ich möchte vielmehr auf den Kontext existentieller Themen verweisen, mit dem sich Vroni Schwegler auch in der Zusammenarbeit mit Hermann Nitsch seit dem Beginn ihrer künstlerischen Arbeit auseinandergesetzt hat. Vroni Schwegler beherrscht die klassischen Techniken der bildenden Kunst mit – wie immer wieder gesagt wurde – geradezu altmeisterlicher Virtuosität. Sie hat in den letzten Jahren die Möglichkeiten gerade der Kaltnadelradierung bis an ihre Grenzen erprobt und ganz wunderbare Blätter geschaffen. Ihre Beschäftigung damit verdankt sich jedoch nicht zuerst dem handwerklichen Reiz dieser Techniken, die sich dann für die Darstellung jedes beliebigen Gegenstandes einsetzen lassen. Der Weg war, so scheint mir, ein umgekehrter. Auch gegenständliche Ölmalerei oder Kaltnadelradierung kann Konzeptkunst sein.

Eine ähnliche Irritation stellt sich beim Betrachten der Werke von Gerrit Vierbacher ein, von dessen Oeuvre ich allerdings nur einen kleinen Ausschnitt kenne. Wie kommt es, dass jemand, der über Jahrzehnte im Unterricht zügig Problemstellungen und Lösungen für Fragen der Darstellung gefunden hat, nun mit Langsamkeit und Beharrlichkeit Buchstaben und Zahlen schreibt oder eigentlich zeichnet, in einer Technik, die ihre Schwierigkeit überhaupt nicht auf den ersten Blick offenbart, dafür aber das Scheitern sofort bestraft. Die typographische Serie, die Sie hier sehen, entstand 2013 in der Technik chinesischer Tuschemalerei, also mit sehr weichen, teilweise sehr dünnen, teilweise ganz breiten und jedenfalls ziemlich unberechenbaren Pinseln. Wenn Sie die Bilder später genau betrachten, können Sie sehen, wie sich die Tusche etwa beim Ansetzen zu einem Strich oder beim Auslaufen selbständig macht und eigene Formen und Verläufe bildet. Das ist nicht intendiert; man muss damit leben, manchmal sind diese Ausbrüche ganz schön. Umso erstaunlicher ist es, dass es meist gelingt, den Eindruck von Regelmäßigkeit herzustellen. Gerrit Vierbacher zeigt in dieser Serie gemalte Druckschrift. Auch auf diese Paradoxie komme ich zurück. Die Foto-Serie ist ein eigenes Kapitel. Eines lässt sich schon einmal festhalten: Beide Künstler wählen Materialien und Techniken, die es ihnen nicht leicht machen. Der Prozess des Machens bildet sich mit ab. Im Fall der großen Fischradierung von Vroni Schwegler im hinteren Raum ist das die Spur der Körpers des Fischs, der, während er gezeichnet wurde, auf der Zinkplatte lag und sich mit seiner salzigen Oberfläche ein wenig in das Metall gefressen hat. An dieser Stelle gibt es nun dunkle und helle Flecke und das Papier wurde beim Drucken stark aufgeraut. Der Modell- Fisch ist noch auf eine andere Art im Bild anwesend als durch sein Abbild.

Es ist das leicht Zittern der Hand, die versucht, einen dünnen, geraden Strich zu ziehen; es ist die Ermüdung der Hand, die nach fünf oder sechs Fischen einen Tag Pause einlegen muss, weil es anstrengend ist, die tiefen Linien ins Metall zu graben und weil die Radiernadel anfängt auszubrechen. In den Bildern aufgehoben, bzw. an ihnen ablesbar, ist damit auch die Zeit, die es dauert, sie zu machen. Auch das ist nicht selbstverständlich: Manche Bilder verschleiern den Prozess ihres Entstehens. Diese thematisieren ihn.

In einem Vortrag in der Freien Kunstakademie Frankfurt sprach der Fotograf Gerald Domenig vor einiger Zeit über das Gastmedium: das Phänomen, dass ein Kunstwerk einer bestimmten Gattung auf ein anderes Medium anspielt und seinen Regeln teilweise folgt, dass etwa ein Roman zugleich Züge eines Films haben kann, oder dass ein Buch körperhaft wie eine Skulptur sein kann. Dieses Denkmodell ist für das Anschauen der Arbeiten beider Künstler hilfreich: Als Gastmedium der großen Kaltnadelradierungen von Vroni Schwegler könnte man die Malerei bezeichnen; dasjenige in den Schrift-Bildern von Gerrit Vierbacher das gedruckte Wort.

Die großen Bilder von Vroni Schwegler sind Diamant-Kaltnadelradierungen. Das Werkzeug ist ein spitz geschliffener, in einen Zeichenstift gefasster Diamant. Dieser „Stift“ kann sehr feine Linien ins Metall der Druckplatte gravieren aber auch relativ tiefe Gräben. Sie entstehen nicht – wie beim Kupferstich – indem Metallspäne aus der Platte herausgehoben werden; das verdrängte Material bildet neben dem gezogenen Strich eine relativ gleichmäßig verlaufende, leichte Erhebung, die beim Druck als malerischer Verlauf in Erscheinung tritt. Dass von der überaus feinen Linienzeichnung mit ihren Grauwerten bis zum Malerischen ganz samtiger, dunkler Töne alles möglich ist, darin besteht der Reiz dieser Technik. Freilich ist sie auch mühsam. Bei der Kaltnadeltechnik wird nicht geätzt, jeder Strich der sichtbar wird, wurde in die Platte graviert. Als geübte Radiererin schafft Vroni Schwegler fünf bis sechs Fische am Tag. Die reichen Tonabstufungen von ganz tiefen Schwärzen bis zu leichten Grautönen sind nur möglich durch ein präzises, kontrolliertes Arbeiten. In dem allerdings auch der Zufall seinen Platz haben kann. Die meisten Radierungen von Vroni Schwegler entstanden auf Platten, die schon einmal benutzt worden waren. Das heißt, dass die Hintergründe nie nur den Papierton hatten, sondern immer etwas mitgedruckt wurde, worauf sie keinen Einfluss hatte, worauf sie reagieren, was sie in ihr Bild mit einbauen musste. Sie können das bei den Faltern im hinteren Raum beobachten. Das ist bei den großen Radierungen anders: Niemand wirft eine so große Zinkplatte weg. Fast niemand macht überhaupt so große Kaltnadelradierungen. Es ist übrigens auch nicht so, dass man für die ganze Mühe mit einer Menge Abzüge in guter Qualität belohnt würde. Um diese Platten zu drucken braucht man eine spezialisierte, sehr erfahrene Werkstatt wie die von Martin Kätelhön in Köln. Gedruckt werden zwei bis drei Abzüge. Es handelt sich also fast um Unikate. Womit ich noch einmal auf das Gastmedium zurückkommen möchte und vielleicht auch auf die Farbe Schwarz. Die Ölgemälde von Vroni Schwegler sind nur selten groß. Die Ente im roten Raum gehört mit 30 x 40 cm schon zu den Großformaten. Die traditionell kleine, private Form der Druckgrafik aber wird von Vroni Schwegler an wirklich großen Formaten erprobt. Die Motive sind in allen Medien, die sie verwendet dieselben: ihr Name verbindet sich seit langer Zeit mit dem Tierstilleben. Allerdings wirken ihre Tiere selten ganz tot – die Spuren davon was sie einmal ausmachte – das Bewegliche, Schimmernde, Glatte der Fische; das Zarte des Gefieders der Enten und Gänse, die Fluchtbereitschaft der Kaninchen – an all das können ihre Bilder der während des Malens oder Zeichnens still vor ihr liegenden toten Tiere erinnern.

Auf eine Art ist auch das ein Verweis, des Todes auf das Leben – eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass im klassischen Stillleben der Gedanke des Memento mori ein zentraler ist. Wahrscheinlich kann man ihn leicht umdrehen: Denke daran, dass Du lebst. Ähnlich funktioniert es wohl mit dem Schwarz. Zum einen ist das Schwarz bei gelungenen Drucken, wie denen, deren Anblick sie hier genießen können, eine Farbe im Sinn von Material. Das Schwarz besitzt eine samtige Materialität. Zum anderen verweist es – zusammen mit den Grauabstufungen und dem Papierton auf die vielen Farben des schimmernden Fischs, der Farbverläufe in den Federn der Vögel. Insofern ist es ganz schön, dass wir heute auch eine Ente dabei haben, in Öl. Sie können sich allerdings auch auf ihre Augen verlassen, auf ihre eigenen Seherfahrungen aber auch auf Erlebnisse des Berührens und berührt Werdens: von einem kühlen Fisch beim Schwimmen im See oder vom weichen Fell eines Kaninchens, das man kurz halten durfte.

Ich möchte noch einmal zu dem Gedanken des Gastmediums zurückkommen und zu den Bildern von Gerrit Vierbacher. Wenn sie, wie wir gesehen haben, auf die das gedruckte Zeichen verweisen, dann tun sie das in doppeltem Sinn. Zum einen in formaler Hinsicht, wo auf die Regelmäßigkeit und die Stilisierung einer gedruckten Typografie angespielt wird – im Gegensatz zur Schreibschrift mit ihrem Duktus. Hier wird immer wieder neu angesetzt, zum Teil innerhalb eines Buchstabens sogar zweimal. Zugleich sind die Bilder aber auch Aussagen: Bilder von Sätzen, teilweise Satzfragmenten, die sich wie Forderungen oder Regeln lesen – z. B. Subventionen (Lebensmittel, Strom, Wasser) abbauen oder Einfuhrzölle senken oder es sind die Bilder von Zahlen – etwa der Toten des Gazakriegs 2008/9. Die Quelle der hier gezeigten Arbeiten ist der „Atlas der Globalisierung“, den die Zeitschrift „Le monde diplomatique“ einmal im Jahr herausgibt, und der Zahlen und Fakten zu bestimmten, für das jeweilige Jahr besonders bedeutenden Ereignissen und Entwicklungen zusammenträgt und graphisch darstellt. Auf diese Weise werden manchmal die Mechanismen und die Interessen hinter den oft kompliziert erscheinenden globalen Abläufen ganz verständlich. Manches wird relativiert. Manches bleibt fremd, so wie das Bild von Syrien, gesehen aus Satellitenperspektive, eine Perspektive, die die eigene Distanz zu dem dortigen Geschehen spiegeln kann.

Die Befremdung angesichts globaler Abläufe, die wir gutheißen oder furchtbar finden können, die mit einer Rasanz geschehen, der wir kaum folgen können und die sich zum größten Teil an Orten vollziehen, die wir nicht kennen – die aber zugleich Einfluss auf unser Leben haben können, teilen sicherlich viele. Gerrit Vierbacher reagiert darauf mit Verlangsamung. Um das Bild einer Zahl fertigstellen zu können, braucht es viele Versuche. Mit den Versuchen geht eine Verschiebung einher – das Bedürfnis, gerade an diese Zahl zu erinnern, weicht dem künstlerischen Anliegen, diese Zahl darzustellen, so gut es mit dem dünnen, flexiblen Pinsel geht. Auch diese Zahl erzählt, ähnlich, wie Vroni Schweglers Stillleben, vom Tod, erinnert vielleicht an einen Grabstein, in den ja auch Namen und Lebensdaten eingeritzt werden, bevor die Zeit sie wieder auslöscht.

Bei unserem ersten Gespräch über diese Ausstellung blieben wir lange bei einem Thema hängen, das uns gemeinsam ist – und ich nehme sehr stark an, dass wir damit nicht die einzigen sind in diesem Raum. Als wir nach dem Tod meiner Großmutter ihr Haus räumten, das nun vermietet ist, tauchte nicht nur der Parteiausweis auf, es vielen uns auch viele Fotos in die Hand, aus dem deutsch besetzten Paris der Kriegsjahre, Männer in Uniform, deren Identität wir nicht kannten und von denen wir nicht wussten, was sie wo getan haben. Gerrit hatte ein ähnliches Erlebnis nach dem Tod seines Vaters, eine Auswahl aus einer ganzen Menge von Bildern, die er gefunden hat, sehen sie hier. Man muss nicht viel dazu sagen – sie sind in gewisser Weise prototypisch, Zeugnisse der – so empfindet Gerrit das wohl – Männerwelt des Krieges. Für mich eher Teil eines kollektiven Unterbewussten, mit dem jede und jeder Geschichten und viele Unausgesprochenes verbinden können.

Bettina Schmitt, 09. Mai 2014

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FARBE SCHWARZ – Überlegungen zu Arbeiten auf Papier von Gerrit Vierbacher und Vroni Schwegler und einer Ente, Text von Bettina Schmitt, 2014.pdf

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Roland Borgards
Fische, einzeln und im Schwarm
Vroni Schwegler und die Tiere

In der abendländischen Tradition begegnen uns zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten, Tiere in die Kunst aufzunehmen. Zum einen gibt es die Kunst-Tiere, die etwas bedeuten: Ein Löwe ruht zu Füßen des Königs, ein Affe erscheint als Inbild der Lust, ein Heuschreckenschwarm frisst sich durch die Felder, ein Pfau schlägt sein Rad. Zum anderen gibt es Tier-Kunst, die etwas zeigt: Das Bild eines Zebras zeigt ein Zebra, das Bild einer Ameise zeigt eine Ameise, das Bild eines Elefanten zeigt einen Elefanten. Zwei Typen von Tierbildern ließen sich so einander entgegensetzen: Zeichenbilder gegen Zeigebilder, Bedeutung gegen Anschauung, Semiotik gegen Deixis. Wenn das schon die ganze Wahrheit der Malerei wäre, dann wären die Fische von Vroni Schwegler, einzeln und im Schwarm, ganz einfach gezeigte Tiere: Schaut her, ein Fisch! Doch so einfach ist es nicht, aus mindestens drei Gründen.

Erstens wird jedes Tier, das etwas bedeutet, immer auch gezeigt. In der Malerei ist das augenscheinlich: Selbst ein Wappenlöwe ist nicht nur eine Verweis auf die Souveränität, sondern auch das Bild eines Löwen. Man kann nicht Tiere malen, ohne Tiere zu malen. Das gilt auch für die Literatur: Man kann nicht von Tieren schreiben, ohne von Tieren zu schreiben. Man könnte hier von einer unhintergehbaren künstlerischen Deixis sprechen: Kunst kann nicht nicht zeigen.

Zweitens kann jedes Tier, das gezeigt wird, immer auch etwas bedeuten, oder genauer: mehr und anderes Bedeuten als bloß das gezeigte Tier. Dies liegt in der Natur menschlicher Artefakte, an die Bedeutung anzulagern ein gängiges Verfahren in unserer Kultur ist. Das ist besonders evident für die Literatur: Man kann nicht von Tieren lesen, ohne ihr literarisches Vorkommen zu deuten. Das gilt auch für die bildende Kunst: Jedes Tier, das auf einem Bild zu sehen ist, kann man auch interpretieren. Man könnte hier von einer unhintergehbaren künstlerischen Semiotik sprechen: Kunst kann nicht nicht bedeuten.

Drittens schließlich lässt sich darüber nachdenken, inwiefern das gezeigte und gedeutete Tier der Kunst selbst mit am Prozess des Zeigens und Deutens beteiligt ist. Dazu ist es nicht unbedingt nötig, einem Tier selbst einen Pinsel in die Hand zu drücken. Es reicht schon aus, sich eine konstellative Kunstfertigkeit vorzustellen, an der eine Künstlerin (mit ihrer Aufmerksamkeit, mit ihrem Blick, mit ihrer Hand, mit ihrer Übung, mit ihrem Wissen), einige technische Dinge (Ölfarbe, Pinsel, Bretter) und ein Tier (ein toter Fisch, und zwar ein bestimmter, individueller toter Fisch) beteiligt sind.

Vor allem darum geht es vielleicht bei den Bildern von Vroni Schwegler: um einen Raum, in dem eine Künstlerin, ein Fisch und Malgeräte beieinander waren; darum, dass es das gab: diesen bestimmten Ort, diesen spezifischen Moment, diese konkreten Mitspieler. Deshalb lässt sich Vroni Schwegler auch immer wieder beim Tier-Malen zusehen; deshalb bringt sie die Tiere auch in Häuser und zeichnet sie dort mit Bleistift auf die Wand; deshalb ist ihr Atelier kein geschlossener, sondern nur ein konzentrierter Raum. Ein Raum, in dem Akteure aufeinanertreffen können. Jedes einzelne Bild bewahrt ein solches Treffen.

Um als Akteur in diesem Spiel beteiligt zu sein, muss der Fisch gar nicht leben, er darf tot sein. Im einzelnen Bild kommt der Fisch zu einem Leben, das etwas anderes und vielleicht auch mehr ist als eine bloße biologische Kategorie. Dieses Leben liegt nicht im Fisch, sondern im Bild. Darum zeigen die Bilder von Vroni Schwegler nicht nur einmal einen Fisch, sondern viele Fische, und davon jeden einzelnen in vielen Variationen: lauter Momente, Konstellationen, Konkretionen; jedes einzelne Bild die Spur einer Aktion und seiner Akteure: Künstlerin, Fisch, Pinsel. Und wieder: Künstlerin, Fisch, Pinsel. Und noch einmal: Künstlerin, Fisch, Pinsel.

So entstehen Schwärme, die solche Aktionen versammeln. Auch wenn viele Bilder den gleichen Fisch zeigen, ist doch jedes Bild ein Individuum. An der Wand erscheinen auf diese Weise keine Fisch-Schwärme, sondern Bilder-Schwärme. Im Schwarm vervielfältigt sich das nicht- biologische Leben. Und im Hängen wiederholt sich die Aktion, nun mit teilweise neuen Akteuren: eine Künstlerin, Hammer und Nagel (die an die Stelle von Pinsel und Farbe getreten sind) und Fisch-Bilder (die an die Stelle der Fische getreten sind).

Was teilen wir mit den Tieren? Unsere Sterblichkeit (Jacques Derrida), unsere Freude (Donna Haraway) und möglicherweise (Vroni Schwegler) Orte und Momente, an und in denen dank der Kunst ein nicht-biologisches, ein a-biotisches Leben entsteht. Dass es sich dabei um ein Leben handelt, das den Tod auf eigene Weise anerkennt und mit ins Spiel aufnimmt: auch dies sieht man auf den Bildern von Vroni Schwegler. Fische, einzeln und im Schwarm.

Roland Borgards, 2013

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Fische, einzeln und im Schwarm – Vroni Schwegler und die Tiere, Text von Roland Borgards 2013.pdf

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Esther Walldorf
Laudatio auf Vroni Schwegler
Kunstpreisträgerin der Johann-Isaak-von-Gerning-Stiftung im Rahmen des 5. Herbstsalons, 2013

Sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrte Frau Kulturdezernentin, meine sehr geehrte Damen und Herren,
mit dem Kunstpreis der Johann-Isaak-von-Gerning-Stiftung im Rahmen des 5. Bad Homburger Herbstsalons wird Vroni Schwegler für ihren Ausstellungsbeitrag „Wolfsbarsch“ ausgezeichnet. Vroni Schwegler, 1970 in Penzberg geboren, studierte von 1992-1997 an der Städelschule bei Hermann Nitsch. Im Jahr 1995 absolvierte sie ein Gastsemester an der Cooper Union School of Art in New York und schloss 1997 als Meisterschülerin ihr Studium in Frankfurt ab. Vroni Schwegler lebt und arbeitet in Frankfurt und war von 2000-2013 Dozentin und Leiterin der Abendschule der Städelschule in Frankfurt am Main.

Vroni Schwegler hat die Preisjury mit ihrer Komposition einer Wand aus 23 kleinformatigen Gemälden überzeugt. Seit vielen Jahren setzt sich die Künstlerin in ihren Gemälden, Zeichnungen und in der Druckgrafik mit dem Tierstillleben als zentrales Thema ihres Werks auseinander. Zu ihren Lieblingsmotiven zählen seit langem Fische, die sie nicht als Gegenstand, sondern als eine Erscheinung im Licht versteht und so malt.

Sie interessiert der Ausdruck, die Physiognomie der Tiere mit der Struktur ihrer feuchten, schillernden Schuppen oder auch das nie geschlossene und deshalb scheinbar immer schauende Auge. Hier in der Galerie Artlantis hat sie ihre Gemälde mit den stark angeschnittenen Bildrändern in drei Gruppen wie Schwärme gehängt.

Durch die Nachbarschaft ähnlicher Bilder werden bestimmte Kompositionstypen erkennbar, sie verstärken sich gegenseitig und steigern damit das Bewegungsmoment innerhalb des Schwarms. Die drei dynamische Fischschwärme näher sich dem Betrachter, tauchen ab und schwimmen an uns scheinbar vorbei. Für die Wand aus 23 Bildern hat der Malerin jedoch nur ein einziger Fisch, ein Wolfsbarsch, als Modell gedient. Über viele Tage fand die Auseinandersetzung mit diesem einzigen Motiv statt: Vroni Schwegler hat das leblose Tier in unterschiedlichen Ansichten und Stadien gemalt, zwischendurch im Gefrierfach aufbewahrt und schließlich begraben.

Eine Entwicklung wird gezeigt, an dessen Beginn auf der linken Seite der Wand die blaue Untermalung einer kleinen Bildtafel aufblitzt und wie die Reflexion einiger ebenso blau leuchtenden Schuppen wirkt. „Die Wand mit Fischen“ entwickelt sich durch die Anordnung der Bilder von links nach rechts im Sinne eines Prozesses der Vergänglichkeit, der mit dem letzten Schwarm mit Blutrot endet. Am stärksten ist in diesem Schwarm die malerische Auseinandersetzung mit dem Motiv zu entdecken. Vroni Schwegler gelingt es, in ihren 23 Bildern einen Prozess der materiellen Veränderung zu schildern, ohne dabei eine Geschichte der Zersetzung darzubieten. Wie sie sich ihrem Motiv nähert und es malerisch erfasst, ist absolut nicht morbide. Das Besondere dieses Motivs ist, dass der Fisch noch im Tod durch seinen dynamisch geformten Leib von seinen Bewegungen, dem Schwimmen und Gleiten im Wasser, zeugt. Diese scheinbare Lebendigkeit verbindet Vroni Schwegler mit diagonal angelegten Kompositionen und stark angeschnitten Bildrändern, so dass Bewegung im Bild entsteht. Durch die Wahl der engen Bildausschnitte isoliert sie ihr Motiv, und der Fisch entwickelt gleichzeitig einen Ausdruck der Hilflosigkeit und Alleingelassen Seins. In den unterschiedlichsten Bruchteilen gezeigt, entwickelt das Motiv in seiner Fragmentierung etwas sehr Beunruhigendes. Vroni Schwegler gibt uns, den Betrachtern, diesen Bildausschnitt unausweichlich vor, als wolle sie uns zwingen, dass wir uns mit dem Motiv beschäftigen. Wie über eine Hintertür kommt hier eine ökologische Deutung hinein, die von ihr jedoch vermutlich nicht intendiert war. Durch Verdopplung des fragmentierten Motivs in einzelnen Tafeln und der Wiederholung in 23 Bildern verwandelt Vroni Schwegler den toten Wolfsbarsch in drei bewegte Schwärme. Das Thema der Vergänglichkeit verliert durch den Eindruck von Bewegung und Lebendigkeit an Bedeutung. Sie greift die Tradition des Tierstilllebens auf und löst gleichzeitig ihr Motiv des Fischs aus dem Kontext dieses klassischen Sujets der Malerei mit seinen symbolischen, traditionellen Deutungen heraus.

Die Präsentation ihrer Bilder nimmt den Blick des Betrachters gefangen: Wir versuchen die einzelnen Bilder zu einem Ganzen zusammenzubringen. Aber genauso ist jedes dieser kleinen Gemälde in der Lage, für sich alleine zu bestehen, denn sie haben alles, was ein Bild braucht und behaupten sich auch gegen die Wand. Über den Schwarm hinaus erzählen sie teilweise ihre eigene Geschichte und jedes für sich entwickelt seine eigene Strahlkraft.

Als Betrachter – die Jury am Mittwoch erlebte es so – ist man versucht, sich sein persönliches Bild auszuwählen und sich vorzustellen wie man dieses alleine auf einer Wand positionieren würde. Vroni Schwegler hat durch die Wahl des Themas, die Präsentation und die Wirkung ihrer Arbeiten überzeugt.

Im Laufe der Juryberatung fiel bei der Betrachtung ihrer Wand ein Satz, der Sie heute Abend zum Schauen einladen soll: „Es tut den Augen gut, sich mit Vroni Schweglers Bildern zu beschäftigen.“

Esther Walldorf
Bad Homburg, 27. September 2013
Laudatio auf Vroni Schwegler, Kunstpreisträgerin der Johann-Isaak-von-Gerning-Stiftung im Rahmen des 5. Herbstsalons

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Laudatio auf Vroni Schwegler – Kunstpreisträgerin der Johann-Isaak-von-Gerning-Stiftung, Text von Esther Walldorf, 2013.pdf

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Tobias Schnotale
Zwiegespräch mit einem Wandkaninchen

Locker übereinander gekreuzte Beine vermitteln üblicherweise den Eindruck von Entspanntheit. Auch die Hinterläufe jenes Kaninchens, das als filigrane, rund 30 cm hohe Bleistiftzeichnung etwa einen halben Meter über dem Boden meines Ateliers direkt neben der Eingangstür an der Wand schwebt, liegen über Kreuz. Aber dieses Kaninchen ruht sich nicht aus. Eher schon ist es dabei, ganz langsam zu verschwinden. Und vorher noch einmal an anderem Ort zu erscheinen.

Gezeichnet hat es mit einer für mich unglaublichen Geschwindigkeit – in knappen zwei Stunden mit einem HB-Bleistift – äußerst konzentriert und dennoch ganz selbstverständlich, die Frankfurter Künstlerin Vroni Schwegler. Als Modell diente ihr ein totes Kaninchen, das sie selbst mitbrachte und neben sich auf den Boden legte. Soweit ich anwesend war, wurde an der Zeichnung nichts korrigiert oder gar wegradiert.

Schweglers Wandzeichnung ist so fein und gleichzeitig unpedantisch ausgeführt, auch in der Nahbetrachtung, dass sie wirkt, als ob sie auf einem sehr feinen Zeichenpapier stehen müsste. Das Fell und die Barthaare sind klar durchgebildet, aber eben nicht explizit dargestellt. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, so scheinbar anstrengungslos auf einer mittelrauen, weiß gestrichenen und untapezierten Wand! Ich empfehle den Selbstversuch.

Die Wandzeichnung sieht zunächst aus wie eine meisterhafte Naturstudie – ich muss gleich an Zeichnungen Dürers denken – und wirkt doch zugleich entrückter, weil das Kaninchen hier ohne Hierarchie sowie paradoxerweise mit größerer Distanz UND hoher Empathie beobachtet wurde. Die Künstlerin selbst spricht davon, dass sie durch ihre Zeichnungen die Objekte „scannt“. Obwohl man als Betrachter das Gewicht des toten Tieres zu fühlen glaubt und ihm wirklich durch sein weiches Fell streicheln möchte, zieht es sich zugleich vornehm zurück und „grüßt aus einer anderen Dimension“. Einige Bereiche der Zeichnung sind frei geblieben, wurden also nicht gezeichnet. Es handelt sich aber dennoch um keine fragmentarische Darstellung. Vroni Schwegler erklärt auf meine Nachfrage, dass die Zeichnung durch die frei gelassenen Bereiche besser „atme“. Die Kaninchen-Wandzeichnung positioniert sich durch die Verbindung naturalistisch-plastischer mit flächenhaft- strukturell-grafischen Anteilen gewissermaßen in eine „Zwischenwelt“. Das Kaninchen wirkt auf mich nicht, als wäre es auf die Wand gezeichnet, sondern als sei es ein Stück in die Wand hineingesunken.

Sein leerer, toter Blick fixiert mich. Erinnerung an strengen Geruch nach altem Blut.

Was bewegt mich so an dieser wie anderen Zeichnungen der Künstlerin? Allein das Motiv der toten, geschundenen (in diesem Fall: vom Jäger erschossenen) Kreatur? Die Darstellung des Wandkaninchens wirkt aber weder sentimental noch borniert- intellektuell. Ich glaube, es geht um die ZUWENDUNG und das Aushalten der Wahrnehmung. Hier wurde ein totes Tier in aller Ruhe zärtlich wahrgenommen und das Wahrgenommene zeichnerisch notiert. Insofern erinnert mich Vronis künstlerisches Tun an eine wesentliche meditative Übung.

Da! Hat das Kaninchen nicht gerade gezwinkert? Mir zugezwinkert? „Junge, ich möchte Dich an etwas erinnern.“
Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

Vielen Dank für Deine Zeichnung, Vroni!

Tobias Schnotale
im August 2013

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Zwiegespräch mit einem Wandkaninchen, Text von Tobias Schnotale, 2013.pdf

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Helmut Wicht
Vroni und die toten Hasen

Vroni Schwegler ist eine zierliche, schlanke, fast ein wenig knochige Frau. Ein bisschen sieht sie aus wie aus spätgotischem Holz geschnitzt. Ins Männliche transponiert gäb’ sie einen schönen, asketischen Heiligen in einem Stoss- oder Riemenschneider-Altar ab, einen Hieronymus zum Beispiel. Da gehörte dann ein Löwe dazu.

Aber zu Vroni gehören die toten Hasen. Und sie schnitzt auch nicht, sie pinselt, sie strichelt, sie stichelt. Vroni ist Künstlerin. Sie malt mit öligen und wässrigen Farben, zeichnet mit Bleistiften und kratzt mit der Kaltnadel in Kupferplatten. Tote Hasen. Nicht nur, aber auch. Momentan ist sie in einer Hasen-Phase.

Vroni ist ein ziemlicher Anachronismus. Sie selbst könnt’ ich mir – wie gesagt – durchaus als spätgotisches Burgfrollein vorstellen, und das, was sie malt, zeichnet und radiert, ist auch irgendwie aus der Zeit gefallen. Aus der Gegenwart zumindest. Vronis Sachen sind klein, ohne aber Miniaturen zu sein. Die Hasen auf den Radierungen sind etwa so groß, wie es Hasen halt sind. Genauer: Sie sind kaninchengroß, es sind nämlich kurzohrige Wildkarnickel, die sie da in ihren Todesposen auf die Platten strichelt. Warum sie sie „Hasen“ nennt, wiewohl sie es besser weiss: das weiss ich wieder nicht. Oder vielleicht doch.

Weiter unten.
Kleine Formate. Dabei stammt sie, was Ihre Ausbildung angeht, durchaus aus der künstlerischen Breitwandwelt. Sie hat bei Hermann Nitsch an der Städelschule in Frankfurt studiert – das ist der mit den quasi-cinematoskopischen, körperbetonten, stundenlangen Mega-Schlachtfest-Inszenierungen; mit Ochsenfleisch und -blut und -galle und Tapetenkleister (als Surrogat anderer, normalerweise nur in kleineren Mengen zur Verfügung stehender Körpersäfte). Sie ist eine seiner Meisterschülerinnen.

Tote Kaninchen, kleine Formate, unanständig gegenständlich altmodisch Haar für Haar in die Platte gekratzt. Ganz Fell, ganz Haar, ein Strichgewuschel. Wieso denn das? Vroni gibt aber nicht gerne weitschweifige Auskünfte über das „was will uns der Künstler damit sagen“. Statt dessen guckt sie ein wenig ironisch aus ihrem gotischen Gesicht heraus und sagt: „Hase, Fell, Haare, Striche, Nadel, Kupferplatte – Hase gehört zu Kaltnadel.“

Tote Kaninchen… aber sind sie denn tot? Oder schlafen sie? Ziemlich sicher tot, denkt sich der Betrachter. Erstens schlafen Kaninchen nicht mit offenen Augen, zweitens würde kein Karnickel, das etwas auf sich hält, mit so verwuschtem, verwirbeltem, ungekämmtem Fell herumhopsen, das hätt’ es längst glattgeleckt. Und drittens fehlen Vronis Kaninchen meist überlebenswichtige Körperteile, das ganze Hinterteil oder der Rücken zum Beispiel. Nicht abgeschnitten: Einfach weggelassen hat sie die Teile. „Nadelst Du die aus dem Kopf?“ „Nein“, sagt Vroni, „ich muss jetzt heim, jemand hat mir ein totes Eichhörnchen geschenkt, das liegt im Eisfach, das will ich jetzt mal probieren.“ Und lässt den Betrachter mit den halben Kaninchen alleine. Und es ist schon ulkig, wie dann das Kopfkino anspringt, wie man Vroni am Tisch im Atelier an der Kupferplatte sitzen sieht, wie sie das tote Kaninchen oder Eichhorn ins Auge nimmt und es Haar um Strich und Strich um Haar aufs Kupfer bringt.

Wenn das Wort nicht so altmodisch wäre, würde ich sagen: Da ist eine „Innigkeit“ in dieser Vorstellung, ein „Ineinanderaufgehen“ von Gegenstand, Abbild, Technik, Prozess und Produzent. Fast wird man neidisch, dass man – so als Kunstliebhaber – nur des Produktes, und nicht des Prozesses teilhaftig werden kann. Und man denkt sich, dass Vroni eigentlich sehr zu beneiden ist. Denn man denkt sich weiter, dass im Akte dieses Stichelns und Schauens eine Wirklichkeit entsteht, in der sich diese Einzeldinge und -vorgänge – das tote Kaninchen, die Details seines Felles, jedes seiner Haare, die Striche auf der Platte, das kalte Kupfer selbst, die Hand, das Auge – in der sich all diese Einzeldinge und Prozesse, die eigentlich gar nichts miteinander zu schaffen haben, so aufeinander einlassen, dass sie ein Anderes werden, dass sozusagen die Individuation ausradiert wird, indem radiert wird.

Das ists, was ich mit der „Innigkeit“ meinte. Vroni sagt dazu nichts. Das denk’ ich mir so, wenn ich die Kaninchen sehe, das denk’ ich mir aus dem wenigen, was sie ̧ber ihre Kunst sagt. Sie selbst sagt übrigens, sie befürchte, schon allzu geschwätzig zu sein. Dabei redet sie, wenn sie redet, selten über die Gegenstände ihrer Bilder. Sie erzählt gern von Techniken. Von Bleistiften, wo sie den HB bevorzugt, vom Unterschied zwischen dem Stechen und dem Radieren, von Drucktechniken, hoch, und tief und flach, und davon, dass man von den Kaninchenkupferplatten nur ganz wenige Abzüge machen kann. Die halten nämlich nicht lange. Und wenn ich dann so zuhöre und erstmal darüber enttäuscht bin, dass ich „die Bilder nicht erklärt bekomme“, merke ich, dass ich in einem Irrtumwar – im populären Irrtum nämlich, der bei der Kunst immer nur auf das Produkt, und nicht auf den Prozess guckt. Dann muss ich auf einmal an die berühmte Aktion von Josef Beuys denken: „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“. Da ist der Beuys, mit einem toten Hasen auf dem Arm, durch eine Ausstellung marschiert, ganz alleine mit dem Hasen, und hat ihm die Bilder interpretiert. „Witzig“, denke ich mir auf einmal, „vielleicht nennt sie deshalb ihre Kaninchen ’Hasen‘. Eine umgedrehte Hommage an Beuys. Oder Ironie? Zuzutrauen wär’s ihr…“

„Wie die toten Hasen die Bilder erklären“, wie sie davon erzählen, wie sie Strich für Strich zustande gekommen und Druck für Druck verblasst sind, wie sie von Vronis Hingucken und Vronis Hand, die die Nadel führte, erzählen… die toten Hasen erklären die Kunst. Nicht die Kunst die toten Hasen. Das find’ ich dann sehr witzig (im Sinne von „gewitzt“) und gar nicht mehr anachronistisch, sondern sehr modern, trickreich, gar nicht mehr so „romantisch-innig“, sondern ziemlich cool.

Im Mai hab‘ ich Geburtstag. Da schenk’ ich mir einen toten Hasen und häng’ ihn in mein Büro. Um mich dann zu erinnern, dass es noch Wirklicheres gibt als die Wirklichkeit – die Kunst nämlich.

Helmut Wicht, 07. März 2012

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Vroni und die toten Hasen, Text von Helmut Wicht, 2012.pdf

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Mareike Henning
Vroni Schwegler und der Babel Verlag in der Buchhandlung Walther König

Vroni Schwegler traf Kevin Perryman, den Erfinder, Verleger, Betreiber des Babel Verlages 2004 auf der Frankfurter Buchmesse. Es war, wie sie sagt, der einzig schöne Stand auf der ganzen Messe, eine Insel, ruhig und klar und schlicht in lauter Buntem und Lautem. Sie konnte sich kaum lösen. Dazu noch ein großes Foto von Friederike Mayröcker, die sie schon lange mochte. Zu dieser Zeit hatte Vroni Schwegler grade begonnen, ihre eigenen Radierungen in die Ordnung von Büchern, Heften und Leporellos zu bringen. Keine dicken Prachtbände, sondern leichte, selbstverständliche Faltungen, die einzelne Werkkomplexe zusammenbrachten, ihnen eine Reihenfolge und einen Ort gaben. Etwas, wo sie hingehören, herausgelöst aus der großen Menge der entstehenden Arbeiten. Das Aufräumen, das Ordnen, das Bergen lag ihr nah und der erste Band dieser gebundenen / verbundenen Radierfolgen hieß „Bergung“. In diesem Moment war das Aufgeräumte des Babel Standes und die ästhetische Klarheit, die er ausstrahlte, das Äquivalent zum eigenen Tun und zum eigenen Bedürfnis.

Die Frau, die so lange am Stand stand und sich hier am richtigen Ort fühlte, wurde vom Verleger angesprochen und es ergab sich ein Gespräch, in dem Vroni Schwegler von ihrer eigenen Arbeit berichtete – was sie auf dieser Buchmesse eigentlich überhaupt nicht vorhatte. Kevin Perryman ist Engländer und er betreibt seinen feinen, kleinen Verlag allein in einer ausgebauten Scheune seines Hofes in Denklingen bei München. Hier tut er das, was er will, so schön und so gut, wie es irgend geht, setzt per Hand, läßt per Hand binden und arbeitet etwa mit der letzten Papierwindmühle der Welt De Schoolmeester in Westzaan zusammen, die Papier rein aus farbig geordneten Lumpen herstellt. Die Begegnung von Kevin Perryman und Vroni Schwegler war eine glückliche, denn obwohl der eine mit Worten hantiert, die andere mit Bildern, sprechen sie dieselbe Sprache, auf den feinen Papieren des Verlages offenbart sich ein Gleichklang zwischen Personen, Radierung und Poesie.

Aus der Begegnung im Jahr 2004 entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit. Sie zeichnet sich aus durch eine große Freiheit, die eben jener Gleichklang möglich macht, und durch die Hochachtung, die Verleger und Künstlerin einander entgegenbringen. Vroni Schwegler arbeitet nicht auf Bestellung: man kann bei ihr nicht 6 Radierungen zu bestimmten Gedichten ordern. Aber man kann ihr eine Atmosphäre vorstellen, zu der Dinge entstehen. Es geht um Steine und um Vögel, sagt etwa Perrymann und Vroni schickt ein Konvolut von Arbeiten. Perryman wählt aus, erstellt eine Reihenfolge, verbindet, vielleicht schickt Vroni noch etwas nach, es ist ein leichter und überaus vertrauensvoller Umgang der sich hier zwischen Wort und Bild ergibt, und das macht das Ergebnis so schön und so selbstverständlich.

Als Perrymann vorschlägt einen Band zu Friedrike Mayröckers Lieblingsblume, dem Flieder, zu machen, eine Auswahl von Gedichten zur Blume mit Radierungen zur Blume, verweist Vroni Schwegler darauf, dass sie, bzw. er damit bis zum nächsten Mai warten müssten. Und er sieht das ein. Das entstandene Buch ist sicher eins der schönsten in der Zusammenarbeit von Babel und Schwegler. Es ist das erste einer Reihe von drei feinen Heften, die Lyrik mit Radierungen von Vroni Schwegler verbinden, und die auch in einer Vorzugsausgabe mit einer Originalradierung zu haben sind. Flieder entsteht 2008, Das Zärtliche Sakrament der Sehnsucht, wiederum mit Gedichten Mayröckers, allesamt in größter Nähe und Innigkeit an den verstorbenen Ernst Jandl gerichtet erscheint 2009 und Cross ein Bändchen mit Gedichten des englischen Lyrikers R.S. Thomas mit Passionsradierungen von Vroni Schwegler 2009 auf englisch, 2010 auf deutsch. Ein Büchlein übrigens, dass erst durch jene Radierungen entstand, die Kevin Perryman sah und sich in Verbindung mit den Arbeiten von Thomas vorstellen konnte und wollte.

Daneben gibt es still life, einen Band mit Perrymanns eigenen Gedichten und einem kleinen Vogel von Vroni. Es gibt die schönen zweisprachigen Bücher, Hoffnung klar umrissen von Robert Creeley, Ein obdachloser Gedanke des Finnen Pentti Holappa und Steinzwitschern von R.S. Thomas. Selten versteht ein Verleger sein lyrisches Arbeitsmaterial in dieser Weise als auch optisch wahrzunehmendes Kunstwerk. Gerade die finnischen Texte möchte man unwillkürlich laut lesen, ihren Klang hören und dabei vielleicht nicht den Wortsinn, aber sicher etwas anderes verstehen. Dass so etwas Engagiertes und konsequent Schönes entsteht, ist zu unterstützen, dass eine Künstlerin wie Vroni Schwegler in Frankfurt lebt und arbeitet, und man ihre Bilder hier immer wieder begegnen kann, ist ein Glück. Neben ihren Arbeiten mit dem Babel Verlag zeigt sie hier im Schaufenster einen großen Hasen. Es ist tatsächlich nur einer, angesehen aus verschiedenen Blickwinkeln, festgehalten in verschiedenen Strichlagen, präzis und griffig mit der schwarzen Pastellkreide, daneben weicher und schon fast etwas verschwunden in veriebenem, zartem Ton. Dem toten Tier, das ganz nahe der Künstlerin auf dem Tisch liegt, tut sie, so ist der Eindruck, den man im Betrachter des Blattes hat, einen liebevollen Dienst. Sie sieht es genau an, sie hält seine Eigenarten fest, das Gestreckte des Körpers, der Kraft und Schnelligkeit noch im Tod kundtut, das weiche, wuschelige Fell, auch das leicht zusammengerollte, zusammengesunkene, das einen den kleinen Körper mit einer gewissen Traurigkeit betrachten lässt, und doch nichts von seiner Schönheit abzieht.

Wenn man diesen Hasen sieht, weiß man, dass es keine bessere Künstlerin für die Gedichte Friedrike Mayröckers geben kann als Vroni Schwegler. Das zärtliche Sakrament der Sehnsucht ist ein schmaler Band, und doch schafft man es kaum, ihn in einem Stück zu lesen. Das Heimweh nach dem verstorbenen Geliebten ist von einer so unmittelbaren Präsenz, dass es schwerfällt sich in diese Texte hinein zu begeben. Sie sind – wie der Titel sagt – von einer Zärtlichkeit, die im Lesen geradezu körperlich erfahrbar wird. Nichts hat die Trauer abgeschwächt, sie ist Teil der Person geworden, prägend, definierend, von einer Innigkeit so groß wie eine große Liebe. Manche Dinge werden nicht mehr gut. Das heißt nicht, dass das Leben dann furchtbar ist, es heißt nur genau das: manche Dinge werden nicht mehr gut. Man kann ihnen aber mit Zärtlichkeit begegnen, ihnen ihre Größe eingestehen und sie achten, wie Vroni Schwegler den Hasen und all den anderen toten Tieren, die auf ihrem Tisch liegen: Hühnern, Wachteln oder Fischen. Und immer wieder den Hasen, den Fluchttieren, die dem Tod nicht entkommen sind. Mayröcker hat sich gefreut über die Bilde zu den Gedichten und einen Brief geschrieben an Vroni Schwegler, in dem steht „ihre Radierungen haben mich sehr berührt“. Dass diese Kostbarkeiten an Büchern, Bildern, Worten und Papieren nun für eine Weile hier zu sehen sind, ist eine Freude. Freuen wir uns daran.

Mareike Hennig, im April 2010

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Vroni Schwegler und der Babel Verlag in der Buchhandlung Walther König, Text von Mareike Henning, 2010.pdf

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Wolfgang Koch
TIERE IN DER KUNST

Der 70jährige Hermann Nitsch steckt sie immer noch alle in die Tasche, und die Tasche fasst diesmal gleich zwei Etagen des Wiener Künstlerhauses. »Vorbilder/ Zeitgenossen/ Lehre« nennt der Malerfürst und Mitbegründer des Wiener Aktionismus eine hochkarätige Kunstschau, die sein eigenes OEvre in Beziehung zu 66 bildenden Künstlern, Schriftstellern und Theatermachern stellt.

Die Hängung der Ausstellung ist nicht immer erfreulich. Auch scheut der Allesversteher und Daseinsbejubler Nitsch bei der Auswahl der gezeigten Arbeiten vor ärgstem Kitsch nicht zurück (Magdalena Frey, Cornelius Kolig); freilich, das schwer erträglich gewordene Pathos von Rudolf Schwarzkoglers SW-Serien ist nun mal in jeder Rückschau der Wiener Aktionisten obligatorisch. Dass die Grossausstellung dennoch sehenswert ist, liegt am Konzept der Kuratoren Hermann Nitsch und Joachim Lothar Gartner. Erstmals wird das monumentale Werk des Prinzendorfers Schlossherrn nämlich nicht in einer dröhnenden Retrospektive gezeigt, sondern im Schnittpunkt fremder Konzepte dargestellt – ein Verfahren, das Meisterwerke so selbstverständlich miteinschliesst wie katastrophale künstlerische Irrwege.

Zunächst fällt uns die Abwesenheit gewisser prominenter Namen auf. Zweifelsfreie Vorbilder wie Lovis Corinth, Chaim Soutine oder die von Nitsch mit viel Lob bedachten Kollegen Joseph Beuys und Damien Hirst bleiben in der Ausstellung radikal ausgespart. Warum bloss? Statt dessen präsentiert man uns die hinlänglich bekannte erste Garnitur der östereichischen Malkunst – von Egon Schiele und Richard Gerstl über Oskar Kokoschka bis Herbert Boeckl. Auch die Koloristen Anton Kolig und Anton Faistauer sind auffällig vertreten.

Der Grund für diese Selbstbeschränkung auf Wienerschnitzel mit Knödel dürfte in der Finanzierung des Ausstellungsunternehmens zu suchen sein. Etliche der Exponate hätte man locker zu Fuss aus dem Museum Wien über die Strasse tragen können; eine erkleckliche Zahl von Exponaten stammt budgetschonend aus den Beständen des Klosterneuburger Nitsch-Mäzenaten Essl sowie aus dem Fundus von Nitsch selbst. Eine echte Überraschung für den Nitsch-Kenner dürfte dessen Reverenz an den Wien-Behübscher Friedensreich Hundertwasser sein. Beim Rundgang durch die Ausstellung fällt weiters auf, wie viele der Künstlerkollegen sich am Problem der Bildsymmetrie versucht haben und kläglich daran gescheitert sind (Cornelius Kolig, Thomas Draschan,…). Warum die doch eindeutig zu den Zeitgenossen zu zählenden Austro-Kaliber Arnulf Rainer und Gerhard Rühm in der Generalkategorie Vorbilder gelandet sind, während Dieter Roth am Ausleger des Einbaumes neben Magdalena Frey Platz nehmen muss, oder – noch absurder – Adolf Frohner neben dem Strubbelkopf Christoph Schlingensief, bleibt selbst dem geschulten Auge verborgen.

Ansonsten: viel anständiges Informel (Adolf Frohner, Otto Mühl, Antoni Tapies), grosse Farbvielfalt, viel Liebeswonne im Geistesflug, und als einzige Überraschung unter den Zeitgenossen: drei erotische Grossformate von Alfred Biber mit herausragender Langzeitoptik. Erstaunlich ist, dass sich keines der ausgestellten Bilder, Objekte und Videos an das doch zentrale Taurobolium oder Stieropfer, das auf eine Reinigung durch Blut zielt, heranwagt. Der Orgienmysteriker sieht in sich bekanntlich den ersten Künstler der Kunstgeschichte, der sich ernsthaft mit der visuellen Grammatik von Fleisch und Blut beschäftigt hat. Die philosophische Grundlage dazu liefert die Tierzerreissung im antiken Dionysoskult, den Nitsch im O.M. Theater subtil zu erneuern versucht.

Sicher, das Feiern ist eine hierzulande noch wenig bekannte Disziplin. Doch die TeilnehmerInnen an Nitschs mehrtägigen Spielen gelangen stets leicht zur Überzeugung, dass die theatralischen Handlungen nach den Partituren eine Ordnung der Dinge zustande bringen, die höher ist als die, in der sie gewöhnlich leben. Allenfalls ein Kalb in einer Collage von Heinz Cibulka (aus dem ein Baum und der Gekreuzigte herauswachsen) liesse sich als Anspielung auf das künstlerische Generalthema des Tieropfers interpretieren. Jeder Hinweis auf die von Rembrandt gemalten Ochsen fehlt in dieser Ausstellung. Anstelle von Stier, Lamm und Schwein – also den Tieren, mit deren Kadavern das O.M. Theaters operiert – widmen sich die Exponate einer Vielzahl von Kleingetier: auf den Acryl-Schinken von Attersee tummeln sich Füchse, Vögel und Katzen, Katrin Sturm zeigt eine überdimensionale, rotbekleckerte Biene, irgendwo turnt ein Affe über die Wände und Peter Veit konfrontiert einen Jute-Greifvogel mit einem hundsgemeinen Sitzmöbel.

Wirklich lebendig wird die Natur in dieser Ausstellung nur dort, wo sie bereits tot ist. Von Herbert Hollmann ist eine wahre Chronik des Vergehens zu sehen, die neben Muscheln, Steckchen und Familienbildern auch ein Vogelgerippe versammelt. Ein weiteres seiner Kastenobjekte reiht sechs plastinierte Frösche auf den Spitzen von Gipsschuhen, aus denen uns die Lebenfülle in Form von Spielkarten und Papierhaien entgegenquellt. Der 2002 verstorbene Kunsterzieher hat viele Jahre am O.M. Theater mitgewirkt und selbst im Verborgenen geschaffen. Die sechs Froschleichen werden übrigens auf das Reizendste konfrontiert mit Zeichnungen von Hollmanns Tochter Hanna, die dank ihrem Vater nicht nur den Weg nach Prinzendorf, sondern auch zum Künstlerdasein gefunden hat. Ihr Strich wirkt kräftiger als der von Alfred Hrdlicka, doch ihre vom Körper ausgehenden Konstruktionen nehmen streng Distanz zu allen Klischees.

Aus der Künstlerhand von Vroni Schwegler, einer Nitsch-Schülerin an der Städelschule in Frankfurt, stammen die atemberaubenden Momentaufnahmen vom Zerfallsprozess toter Wildhasen. Erst vor einigen Jahren konnte der Kunsthistoriker Erwin Pokorny nachweisen, dass Albrecht Dürer für seinen weltberühmten und neuerdings auch wasserresistenten Albertina-Löffel kein Hasenfell als Vorlage benutzt hat, sondern das ungleich zartere einer Katze. Betrachtet man Schweglers makabre Hasenkörper in der Vitrine, wird man zugeben, dass diese die augenfällige haptische Sensibilität von Dürers Ikone noch spielend übertreffen. Die in Frankfurt lebende Künstlerin hält den Tod mit einer so ausladenden Akribie fest, sie ästhetisiert und erotisiert das Nichtsein in einer Dichte, wie das selbst ihrem Lehrer Nitsch nur in den seltensten Fällen gelungen ist.

Wolfgang Koch, 03. Juli 2009
(Quelle: https://blogs.taz.de/wienblog/2009/07/03/tiere_in_der_kunst_3/)

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Tiere in der Kunst, Text von Wolfgang Koch, 2009.pdf

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Rudolf von Hillern
Zu den Radierungen von Vroni Schwegler

Vroni Schwegler (geboren 1970) aus Frankfurt am Main arbeitet seit Jahren an naturalistischen Themen, wobei sie die jeweils vorgefundenen Formsysteme, wie etwa nach der Natur studierte Landschaften, Tierkadaver wie Fischköpfe und Hasen, oder aber aus historischen Gemälden herausgegriffene Figuren oder Figurenkomplexe auf innere Ordnungen oder formale Rhythmen hin untersucht. Indem sie diesen mit feinem Strich „nachspürt“, werden die vorgefundenen Formen anverwandelt und „transformiert“.

Das Mappenblatt Beweinung, nach Metsijs II gehört in einen Zusammenhang von Bearbeitungen der Passion Christi, dessen Leiden durch die grafische Umsetzung intensiviert wirken: Fast scheint es, als würde der Körper Christi durch Schweglers „Strichhiebe“ mit der Radiernadel zusätzlich gemartert. Zugleich betont das Herausgreifen der Christusfigur, der allenfalls angedeutete Draperien der Madonnenfigur und separate Hände notdürftigen Halt verleihen, die existentielle Vereinsamung und Vereinzelung des Erlösers.

Rudolf von Hillern, 2004

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Zu den Radierungen von Vroni Schwegler, Text von Rudolf von Hillern, 2004.pdf

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Mareike Hennig und Roland Borgards
Ein Hase träumt sich selbst

Da liegt – als wäre das möglich – ein schwebender Hase: eindeutig und unbestimmt zugleich. Schon fast verschwunden oder noch nicht ganz aufgetaucht, ist er da und doch nicht zu greifen, ist er weg und dennoch sichtbar. Es ist nicht einfach ein Hase, wie er gewesen ist; es ist auch nicht nur ein Hase, wie die, die ihn malt, ihn gesehen hat. Was Vroni Schwegler hier zeigt, es ist anderes und mehr: die Anmutung eines Hasen, die Erinnerung eines Hasen an sich selbst, das Bild eines Hasen, ein Hasenbild, das in sanfter Ruhe eine stete Bewegung zwischen Präzision und Unbestimmtheit, zwischen Traum und Tod vollzieht. Das Bild, ein Aquarell, trägt, unten rechts in Bleistift angegeben, den Titel: „Hasenbalg“.

Das Aquarell nimmt den Betrachter mit in die Bewegung hineine, indem es gegenläufige Elemente bildbestimmend ineinander legt. Das beginnt schon mit der räumlichen Gestaltung des Blattes. Einerseits ist der Hase ganz in die obere Bildhälfte gedrängt und zerfällt das Blatt damit in zwei getrennte Hälften, eine gegenständlich dunklere und eine abstrakt hellere. Andererseits verbinden sich diese beiden Hälften indem die hellsten Partien im dunklen Bildteil, in Ohr und Pfoten zu finden sind, de dunkelste Stelle hingegen direkt an den hellen Bildteil grenzt und – zwischen Schnauze und Pfote – der Komposition eine zentrierende Mitte bietet. Zudem erscheinen unterer und oberer Bildrand gleichermaßen ungegenständlich und rahmen so den gegenständlichen Schärfebereich des Bildes, der sich horizontal auf Zweidrittelhöhe von Ohren über Auge und Schnauze bis zu den Pfoten zieht. Obwohl also der dargestellte Gegenstand, der Hase, gegen die Balanceerwartungen platziert ist, entsteht doch ein kompositorisches Gleichgewicht – ein Gleichgewicht, das allerdings vom gegenständlichen Bild immer wieder gestört wird, um sich vom formsuchenden Blick aufs Neue wieder herstellen zu lassen. Ein ähnliches Changieren ergibt sich aus den Mitteln, mit denen der Körper des Hasen umschrieben wird. Scharfe Umrisslinien liegen neben unbestimmbaren Übergängen. An der Kontur findet das Auge Halt, es wandert weiter, es verliert sich erneut, sucht wieder Halt. Kaum hat der Blick den Hasen erfasst, ist er auch schon wieder weg; kaum hat der Blick sich im reinen Spiel der Farbe verloren, taucht auch schon wieder ein Hase auf. Und hält das Auge sich einmal am Umriss fest, so kann auch noch dieser in Bewegung geraten. Denn der Umriss, das zeigt sich etwa an der linken Hasenpfote, ergibt sich bisweilen allein aus der Farbanspülung der Umgebung, er ist nicht eigens gezogen und zieht insofern nicht einen gegebenen Körper nach, sondern macht spürbar, sie das Umfeld den Hasen umfängt. Zart, durchlässig und ätherisch zeigt sich der Hase; es ist der ungegenständliche Umraum, der seine Form aktiv bestimmt: Um sich selbst zu definieren, setzt der gewesene Hase – als Bald nunmehr körperlos – dem dichten Raum zu wenig Substanz entgegen.

Ein Changieren entsteht ebenfalls aus dem starken Kontrast zwischen dem weißen Papier und Partien, in denen Farbe gedrängt übereinander liegt. In zweifacher Weise macht dieser Kontrast das Trägermaterial des Aquarells zum Thema. Zum einen geschieht dies, indem das Papier in seinem unbearbeiteten Zustand ausgestellt ist – offensichtlich noch in den Aquarellen, die große weiße Flächen lassen, wirksam aber auch in einem fast, aber eben nur fast ausgemalten Blatt wie dem “Hasenbalg“. Zum anderen wird das Trägermaterial zum Thema, insofern es – als stark durchgearbeiteter Grund – vom Wasser verformt worden ist: Nicht etwa gleichmäßig über das Blatt verteilt, sondern nur an bestimmtem Orten, zeigen aufgeworfene Stellen die Spuren des Arbeitsprozesses und schaffen ein leichtes Relief. Das Papier, in das die Aquarellfarbe eindringt, ist nicht bloßer Träger, sondern in seiner unberührten wie durchgearbeiteten Materialität elementarer Bestandteil des Bildes.

All diese Bewegungen, die den Blick des Betrachters über das Blatt führen, konzentrieren sich in den beiden Pfoten des Hasen. Ganz dicht beieinander liegen hier das unberührte und das farbdurchdrungen verformte Papier. Die Leichtigkeit des Weiß lässt die helle Pfote über dem dunklen Grund schweben; die Bearbeitung hingegen hat die dunklen Partien reliefartig angehoben, und die Pfoten wirken, als seinen sie in das Papier eingesenkt. Damit gerät auch noch die dunkelste Stelle des Blattes, das Angebot einer kompositorisch zentrierenden Mitte, in Bewegung. In ihrer Farbgebung markiert sie ein Dahinter, einer Ferne; in ihrer räumlichen Materialität kommt sie dem Betrachter entgegen. So vollzieht sich im Herzen des Bildes noch einmal de Bewegung des ganzen Blattes. Die Stelle, der Hase, das Bild: Sie kommen und gehen, sie tauchen auf und verschwinden, sie sind da und sind weg.

Ein Hase träumt sich selbst. Und der Betrachter sich gleich mit.

Mareike Hennig und Roland Borgards, 2003

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Ein Hase traeumt sich selbst, von Mareike Hennig und Roland Borgards, 2003.pdf

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Hermann Nitsch
Hasenmalen

der hase erscheint uns in der natur als fluchttier, er hat ein schönes weiches braunes oder graues fell, der leicht verletzbare bauch ist weiß. die tiere sind tot so malt sie vroni schwegler. man möchte das tote tier an die wange halten um das anschmiegsame fell zu spüren.

das fluchttier flieht instinktiv den tod, das tragische, den konflikt. trotzdem kennt es augenblicke der behaglichkeit, der intensiven lebensfreude, die es der permanenten gefahr abtrotzt.

das fluchttier ist ein modell der lebensbewältigung durch welches versucht wird der gefährlichkeit der existenz vorerst einmal auszuweichen. dem gegenüber steht das raubtier, es organisiert sich sein leben anders. trotzdem werden beide lebensformen vom tragischen eingeholt. niemand bleibt die auseinandersetzung mit dem tragischen, mit dem tod erspart.

vroni schwegler kauft in wildhandlungen die für den nahrungsmittelgebrauch bereits getöteten tiere. sieht man zuerst die gemalten hasen könnte man glauben hier setzt sich die tradition des stillebens fort. das klassische stilleben kennt keine dramatische auseinandersetzung. alles ist bereitet und dargeboten. der tod der zur speise arrangierten tiere ist bereits geschehen. früchte der ebenfalls vollzogenen ernte sind ausgebreitet, dem auge und geschmacksorganen angeboten.
anders ist es bei den von vroni schwegler gemalten hasen. die tragik des tieres, des getöteten tieres, rückt sich nicht vordergründig aber um so eindringlicher ins bewußtsein. einschußverletzungen zeigen blutspuren im feil, blut sickert aus der empfindlichen nase. oft liegen die toten hasen gekrümmt wie embryos vor uns, die zurück wollen in den mutterleib, zurück in das ewige werden. nicht nur die tragik des toten tieres, die tragik des todes schlechthin, ebenso die tragik des menschlichen todes wird begreiflich.
 ich denke an eine pieta, an die anschauung des toten geschundenen erlösers in gestalt eines toten hasen. hier ist die passion mit einbezogen, der tod eines tieres nimmt ebenfalls teil am erlösungswerk und wird in die auferstehung gewiesen.
diese assoziationen bewirkt der eindringliche malvorgang der künstlerin. der ins feil sich schmiegende, im fleisch der farben pflügende, sich wühlende pinsel will mehr als üblich, hier ist die form sich selbst inhalt und zwar der abgründigste grundsätzlichste, der das sein ausgräbt. eine malerei ist im aufbrechen die sich ihre umwett so wie ihren zuständlichen zugang zur welt ernst nimmt. in einer zeit wo die kunst in die unsägliche vielfalt sich begibt und im begriff ist die grundbezüge zu verlieren wird durch schwegler eine analytische malerei betrieben, sie hat den mut zur einkehr sie läßt die gestische malerei in die gegenständliche malerei eindringen, eine fast informelle abstraktion läßt den gegensatz zwischen abstrakt und gegenständlich nichtig werden.
jeder quadratzentimeter ist bewältigt, es gibt keinen unterschied zwischen vorder- und hintergrund. die farbe ist erregend aufgetragen ein wechsel von pastos bis zu wäßrig blutflüssig ergibt sich.
abstraktion wie ich sie verstehe ist wesentlich werden durch verdichten, durch verdichten des gegebenen entsteht eine verwandlung in eine neu begriffene wirklichkeit des seins. das verdichtende zusammenbringen der farben ist mit dem mysterium der transsubstantiation vergleichbar, die vereinzelung des zeitlich gegebenen wird aufgehoben, die wirklichkeit des den tod überwindenen werdens, die wirklichkeit des seins stellt sich leuchtend und verklärt dar.
schwegler sucht das tragische und damit das wesen der malerei, welches im fleisch und blut der farbe liegt, die nicht nur leuchtet sondern auch substanz ist. malerei wird zum vorgang, zum instrument, das dasein das leben das sein zu finden, ein fast ontologisches vorgehen formuliert die frage nach dem sein, es wird uns eine seins- und lebensfindung fast parallel zur meditation oder dieser vergleichbar vorgeführt, mit der suche nach dem tragischen ist nicht das verlangen nach dem scheitern, sondern die suche nach dem über den tod hinausgehenden werdens ist gemeint.
die malerin dringt hinter den tod in die leere des todes und findet dort das fleisch des ewigen lebens, die farbe die FORM, der tod wird dadurch annulliert, das gestorbene wird wieder zu leben gebracht. die wollust der zeugung durch malerei läßt leben gebären. die auferstehung des fleisches wird getroffen.

diese malerei ist lebensüberfluß, sich hineinwühlen in den dionysischen lebensüberschwang bis tief in die verwandelnde zerstörende und gleichzeitig aufbauende tatsache des todes. sie ist die natur, sie ist die wahrheit der natur sich selbst demonstrierend.

Hermann Nitsch, 2002

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Hasenmalen, von Hermann Nitsch 2002.pdf

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